Ich schaue auf die Stelle im Reiseführer, die ich gestern Abend markiert habe. >Also, hier steht, wir folgen dieser Straße bis um die Ecke, und dann sind wir am Eingang.< Liria stopft das Handy in ihre Tasche. >Wo ist er denn?<, fragt sie, blickt auf und nimmt zum ersten Mal wahr, wo wir überhaupt sind. >Ich sehe keinen Turm.< >Dort drüben<, sage ich und zeige mit dem Finger auf die andere Straßenseite.
>Das ist alles?<, fragt sie und versucht nicht einmal, ihre Enttäuschung zu verbergen. >Macht auch nicht mehr her als die anderen verstaubten Schlösser in diesem komischen Land. Ich dachte, wir wollten uns die Kronjuwelen ansehen.< Sehr schön. So kenne ich meine große Schwester. Solange der Tower von London ein paar beeindruckende Diamanten und Rubine zu bieten hat, wird sie das bisschen Geschichte drum herum geduldig ertragen. >Die Kronjuwelen werden nun mal nicht auf der vierten Etage von Harrods ausgestellt<, sage ich. >Das weiß ich auch.< Liria zieht die Nase Kraus und blickt auf den Tower. >Ich dachte nur, er wäre vielleicht etwas schicker. So wie der Turm von Rapunzel zum Beispiel. Könnte ja wenigstens ein bisschen Gold dran sein, dann sähe er schon viel besser aus.< >Tower von London ist nur der Name<, sage ich und zeige auf den Reiseführer. Manchmal frage ich mich, wie Liria es bis in die Abschlussklasse geschafft hat, obwohl ich weiß, dass sie nicht dumm ist, sie lässt sich einfach nur leicht ablenken.
>Es ist aber eigentlich kein Turm, sondern eine jahrhundertealte Festung und ein Gefängnis. So steht's hier.< >Steht da vielleicht auch, warum wir uns all dieses alte Zeug ansehen sollen, wenn wir ebenso gut shoppen gehen könnten?< fragt sie und starrt finster hinüber zur anderen Straßenseite. >Weil der Tower ein berühmtes Gebäude ist, das man einfach sehen muss, wenn man in London ist<, antworte ich. >Und weil Dad uns die Eintrittskarten besorgt hat, die bestimmt nicht billig waren.<
Und weil sich ein Teil von mir dort hingezogen fühlt, so als müsste ich die alten Steinwände berühren und das Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen spüren. Die Wege entlanggehen, die vor Jahrhunderten die Könige und Königinnen von England bestritten haben. Daheim in San Francisco gehört alles, was weiter zurückliegt als 1970, schon zur Geschichte. Die Vorstellung, in einem Gebäude zu stehen, das beinahe tausend Jahre alt ist, raubt mir den Atem. Doch all das kann ich ihr nicht erklären, weil ich diese seltsame Anziehung ja selbst nicht begreife. Und sie würde es so oder so blöd finden.
>Dad ist viel zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, als dass es ihn kümmern würde, womit wir unsere Zeit hier verbringen<, mault Liria. >Er würde es nie erfahren.< Sie murmelt sich fester in ihre Jacke, um sich gegen den kühlen Aprilwind zu schützen. >Warum konnte er keine Geschäftsreise nach Hawaii oder Cancún machen, irgendwohin, wo man die Frühjahrsferien gerne verbringt?<
Dass für mich London weit anziehender ist, als in schweißtreibender Hitze an einem Strand zu brüten, wo sich perfekt gebräunte Menschen auf gestreiften Badetüchern mit so wenig Energieaufwand wie möglich von der einen auf die andere Seite wieder zurück wälzen, brauche ich nicht zu erwähnen. Liria weiß das.
>Was gibt es denn da drüben zu sehen?< fragt Liria. >Noch ein Ort, an dem irgendeine Berühmtheit in Stücke gehackt oder vom Bus überrollt wurde?< Etwas abseits des Gehwegs steht eine Gruppe von Leuten und blickt interessiert auf eine kleine bronzene Tafel am Boden. Ich schaue im Reiseführer nach.
>Fast richtig geraten. Die meisten Hinrichtungen fanden tatsächlich vor dem Tower statt, gleich dort drüben.< Ich zeige auf das von kleinen Zementsteinen eingefasste Viereck neben dem Gehweg und lese vor: >Viele Unschuldige wurden an diesem Ort geköpft, unter dem Jubel Tausender Schaulustiger.< Sofort kommt mir die Szene aus meiner Vision wieder in den Sinn und ein Schauer läuft mir über den Rücken.
>Na besten Dank an deinen Reiseführer für diese echt spannende Info.< Liria blickt auf die vorbeirauschenden Autos und die auf dem Gehweg flanierenden Touristen. >Hat früher sicher ziemlich anders ausgesehen.<
Ich blicke über die Straße und die dahinterliegende Rasenfläche hinweg auf die imposanten Mauern und mächtigen, steinernen Gebäude, die dort seit Jahrhunderten stehen. Genau dieser Anblick muss das Letzte gewesen sein, was viele der Gefangenen ihrem Leben ein Ende setzen würde. Für einen Moment glaube ich beinahe das Echo ihrer verzweifelten Schreie von den Mauern widerhallen zu hören.>Vielleicht gar nicht so anders<, sage ich leise, während wir die Straße überqueren.
>Also, wenn wir da wirklich unbedingt reinmüssen<, sagt Liria, nachdem wir unsere Eintrittskarten abgeholt haben, >dann lass uns gleich zu den Klunkern gehen. Ich will wenigstens ein bisschen Schmuck sehen, wenn ich schon nicht shoppen darf.< Sie schaut hinab auf die sündhaft teuren High Heels, die sie gestern erst gekauft hat. >Zu schade, dass es da drin keinen Schuhladen gibt.< Sie wirft mir einen Seitenblick zu. >Gibt es doch nicht, oder?< >Nein<, sage ich, >ganz bestimmt nicht.<Ich blicke hinauf zu den eckigen Wehrturm. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie die Wachen dort oben mit ihren gepanzerten Rüstungen auf und ab gehen und ihre Waffen auf das trübe Wasser unten richten. Ein beunruhigendes Gefühl beschleicht mich, und nervös suche ich nach den Anzeichen einer drohenden Vision, aber alles, was ich sehe, ist meine jetzt schon völlig genervte Schwester.
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SAPHIRA
Novela JuvenilNach einer schicksalhaften Begegnung fällt die 16 jährige Saphira in Ohnmacht. Als sie wieder aufwacht liegt sie in den Armen des 18 jährigen Blaze. Sie fühlen sich miteinander verbunden. Sie erinnern sich an ihr gemeinsames früheres Leben. Große G...