7. Kapitel - Lion

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Ich ziehe mir die Hose an und der Stoff scheuert mehr als er es sonst tut. Vielleicht ist mein Empfinden verstärkt. Vielleicht war ich wegen der Leere in mir empfindlicher was somatische Gefühle angeht. Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal. Der Schmerz in der Schulter erschwert das Zuknöpfen des Hemdes, aber ich weigere mich jemanden um Hilfe zu beten. Ich brauche das Gefühl etwas selbst zu schaffen, auch wenn es nur das ist. Dieser Kontrollverlust ist sonst zu präsent. Ich beschließe mir ein Tattoo stechen lassen wenn die Wunde verheilt ist, so wie Lion es hatte.

Lion Fernandez, unser Löwe.

Ich musste häufig Nachsitzen und Lion war glaube ich der einzige der da mithalten konnte. Man könnte vermuten, dass wir uns daher kannten aber das war nicht ganz richtig. Wir lernten uns kennen, weil wir uns geprügelt haben. Er renkte mir den Kiefer aus, während an seiner Stirn eine fünf Zentimeter lange Cut Wunde genäht werden musste. Die Narbe ließ ihn noch boshafter wirken als ohnehin schon. Lion hatte abfällig über James gesprochen, nichts schlimmeres, nichts was ich ihm nicht schon gesagt hätte, aber es war eine Zeit für mich, wo ich sehr viel Wut in mir hatte. Im Nachhinein denke ich, dass wir beide das hatten. Es ist keine Überraschung, wenn ich sage das wir nach dieser Aktion lange Nachsitzen mussten und Mum mir sechs Wochen Hausarrest erteilte, wovon sie aber nur eine durchziehen konnte. Leider war die Schule strikter mit so etwas und ich kassierte als Ursache meinen ersten Verweiß. Für Lion gab es eine Verwarnung. Wir saßen uns also beim Nachsitzen gegenüber und starrten uns 90 Minuten lang an, keiner bereit nachzugeben. Lion kam aus einer Gegend, wo Gewalt die einzige Art der Konfliktlösung war und vermutlich er wollte sich beweisen, dass er trotz dem er auf unsere Schule ging, ein Kind der Straße war. Ich dagegen war einfach ein Sturkopf vermutlich wieder eine Gemeinsamkeit. Anscheinend fand die Schule nicht, dass wir genügend Reue zeigten und wir sollten einen Aufsatz über Gewalt und Gewaltprävention schreiben. 2000 Wörter. Ich stellte in Frage, ob er überhaupt so weit zählen konnte und er, dass ich überhaupt so viele Wörter kannte. Wie sich herausstellte, hatten wir beide Recht, also rissen wir uns zusammen und schrieben zusammen einen Aufsatz mit genau drei Wörtern, der uns zwei weitere Wochen einbrachte:

Fuck the System. 

In der nächsten Pause fragte ich ihn, ob er sich zu uns setzten möchte, aber er lehnte ab. Darauf die Pause fragte ich ihn wieder, aber er lehnte ab. Ich fragte ihn eine Woche lang und die Antwort war immer dieselbe. Aber an jenem Mittwoch konnte er nicht ablehnen, denn wir setzten uns einfach zu ihm. Die ersten male sprach er gar nicht, doch irgendwann schien er sich unser erwärmt zu haben. Als Keven Bruns, der Bruder von Martha Burns, laut verkündete, dass Josh und ich seine kleine Schwester bedroht hätten und man uns der Schule verweisen sollte, sagte Lion, er würde mit ihm reden. Ich weiß nicht was Lion unter reden verstand, aber Keven Bruns sprach nie wieder schlecht über einen von uns.

Irgendwann saßen wir beide am Lagerfeuer, während die anderen im See schwammen. Ich weiß nicht was in Lion vorgegangen sein musste, doch er hörte auf in den Flammen zu stochern und sprach. „Die Straße würde mich früher oder später umbringen." Es war eine Aussage, die für mich als gut behütet aufgewachsener Junge schockte, denn in seiner Stimme lag so eine Neutralität, so als würde er sagen, dass Wasser nass wäre. Ich schluckte, sprachlos. „Deswegen bin ich auf unserer Schule. Ich will leben. Ich will das meine Schwester lebt. Zu Hause hätte ich keine Chance dazu." Er beschwerte sich oft über Dinge, die anders waren als er es kannte und er hatte Schwierigkeiten, sich dem Leben an der Schule anzupassen. Lion war kurz davor von der Schule geschmissen zu werden und ich wusste was er mir sagen wollte: Er hatte Angst. Lion Fernandez hatte Angst davor zu sterben. Am jenen Abend beschloss ich alles zu tun, was nötig wäre um ihn an unserer Schule zu behalten. Jeder von uns, ausnahmslos, stellte seine Hilfe zur Verfügung. Taylor nahm ihn in die Footballmannschaft auf, James lernte mit ihm,damit seine Noten sich besserten, Leann nahm ihn mit die freiwillige Gruppen der Schule, Josh gab ihm anständige Kleidung und ging mit ihm zum Friseur, Susan nutzte ihre Funktion als Schulsprecherin, um ein Aufschub der Entscheidung zu erwirken und ich schrieb einen Aufsatz über 4000 Wörter wieso es wichtig wäre Jugendliche aus den sozialen Brennpunkten zu unterstützen. Wir hielten eine Präsentation vor dem Schulausschuss warum es unsere Pflicht war, ihnen zu helfen. Wir hielten einen Vortag vor der ganzen Schule über diese Themen und den hohen Sterberaten in den Vierteln. Wir nahmen Kontakt zu den Medien auf. Und wir hatten Erfolg.

Zwei Wochen später kam Lion mit seinem ersten Tattoo. Er wollte es uns nicht zeigen und ich hatte Angst, dass es zu einer Gang gehörte, dass wir trotz unserer Bemühungen ihn an die Straße verloren hatten. Und dann kam der Abend in der Bowlingbahn. Lion freute sich vermutlich am meisten über seinen Platz am College und dem Stipendium, wo er Sozialarbeit studieren wollte, denn für ihn hieß das, dass er es geschafft hatte: er hatte überlebt. Josh scherzte, dass Lion dafür aber sein Gangtattoo entfernen müsste und verständnislos hatte er ihn angesehen. Wieso er das meine, fragte er und Lion brach im schallenden Gelächter aus. „Nach all euren Bemühungen? Spinnt ihr? Niemals werde ich mir das wichtigste Tattoo entfernen lassen." Dann zog er sein Hemd aus und über seinen Herzen stand schief: The Anarchists

„Ihr seid meine Gang."


Lion Fernandez, der Löwe. Der Kämpfer, der Mächtige, der Unbeirrbare. Der Mutige. Lion erzählte, wie seine kleine Schwester kleine Herzen um sein Tattoo gemalt hatte und Josh lachte. Das nächste was ich von ihm mitbekam war, wie er mich die Bank runterzog und auf mich legte. Ich verstand nicht was das sollte und wollte ihn runterschubsen, doch es ging nicht. Jahrelanges Kämpfen hatte Lion stärker gemacht als mich. Eisern hielt er mich unter ihm. „Was soll das?", versuchte ich gegen die Schreie anzukommen, aber es gelang mir nicht. Lion sah mir in die Augen und dann spürte ich wie die Kugel seinen Körper traf und in mein Schlüsselbein drang. Ich sah unserem Löwen in die Augen und versuchte zu begreifen was da gerade passierte, als ich spürte wie sein Blut sich auf meinem Körper verteilte und das Leben aus seinen Augen verschwand. Sein Kopf fiel kraftlos neben meinen und ich schrie. Lion hatte sich über mich geworfen um die Kugel abzufangen. Er war gestorben. Für mich. Lion war für mich gestorben und die Ärzte sagten, dass wenn er nicht gewesen wäre, wäre die Kugel zwei Zentimeter weiter unten eingeschlagen und ich wäre tot. Nicht die Straße hat ihn umgebracht, sondern ich.

Und ich wünsche mir die Kugel wäre zwei Zentimeter tiefer eingeschlagen. 

The AnarchistsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt