Schon lange Louisa keine Ahnung mehr, wie lang oder wie weit sie nun schon gelaufen war. Ihre Umgebung schien sich einfach nicht ändern zu wollen. Hin und wieder sah sich einen kleinen Dornbusch am Wegrand, aber ansonsten änderte sich nicht viel an der Landschaft. Der Himmel war mit einer einzigen grauen Masse überzogen, von Sonne war keine Spur zu sehen. Es war ein trostloser Ort, zum Verzweifeln. Wie war sie hier hergekommen?, fragte sich Louisa immer wieder, in der Hoffnung, auf eine logische Antwort zu kommen. Sie musste bestimmt schon zwei Stunden unterwegs sein. Als sie zurückblickte, hatte sich immerhin die Gebirgsfront von ihr entfernt. Sie atmete tief durch und drehte sich wieder um und lief ihren Blick schweifen. Sanft flatterten die Grashalme im Wind, weiter weg pfiff jemand eine wunderschöne Melodie. Ihr Vater hatte sie ihr jedes Mal auf seiner Gitarre vorgespielt, wenn er sie ins Bett gebracht hatte. Bis er vor fünf Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war. Seitdem hatte sie diese Melodie nicht mehr gehört. Langsam schlenderte sie weiter den Pfad entlang und lauschte der Melodie. Einen Moment war sie so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, dass diese Person, die pfiff, vielleicht wusste, wo sie hier gelandet war. Sie lauschte angestrengt, doch das Pfeiffen war plötzlich verstummt. Es ärgerte sie, dass es ihr nicht schon früher aufgefallen war. Ihre Schritte wurden schneller, bis sie rannte. Sie durfte diese Person nicht verlieren. Wer weiß, wieviele Menschen sie hier noch treffen würde. Da war das Pfeiffen wieder! Diesmal eine andere Melodie, die Louisa nicht kannte. Sie blieb stehen und lauschte. Das Pfeiffen kam immer näher. Verflixt, wo kommt das Pfeiffen her? "Suchst du etwas?", fragte sie eine männliche Stimme hinter ihr. Erschrocken fuhr sie herum und starrte den Jungen an, der auf einmal hinter ihr aufgetaucht war. Er sah etwa so alt wie sie aus, vielleicht auch 18, aber nicht älter. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. "Du müsstest dein Gesicht mal sehen", lachte er. " Ich bin Jack, und du?", stellte er sich vor. Er trug ein einfaches Wollhemd und eine schwarze Hose, dazu hatte er noch einen löchrigen Hut auf. In der linken Hand hielt er einen Jutebeutel, in der Rechten einen langen Holzstab. "Ich, ähm, ich bin Louisa", stammelte sie schließlich. "Wo sind wir hier?", fragte sie nach einer kurzen Pause, und musterte ihn weiter. Er sah ungewohnt aus. "Da hinten liegt Remény", meinte er und zeigte auf eine große, nicht zu übersehende Trauerweide. Tatsächlich, hinter ihr konnte Louisa Häuser erkennen. Remény sagte ihr nichts. Er bemerkte ihren verwirrten Blick. "Du warst noch nie in der Schattenwelt oder?". "Ich denke nicht", riet Louisa. Sein Lächeln wandelte sich augenblicklich in ein besorgtes Gesicht. "Wie bist du hier hergekommen?", fragte er weiter. "Ich weiß es nicht, ich wollte nach Hause laufen, und plötzlich ist alles schwarz geworden und ich bin hier aufgewacht", erklärte Louisa. "Und da waren auch noch weiße Gestalten...", murmelte sie, und erinnerte sich langsam an das, was geschehen war. "Komm, ich bring dich zu einem Freund, der kann dir bestimmt weiterhelfen", sagte Jack, und es klang eher wie ein Befehl als ein Angebot.
Jack kam ihr dennoch vertraut vor. Vermutlich auch der Grund, warum sie ohne Weiteres ihm einfach folgte, denn normalerweise würde sie keinem Fremden einfach so hinterherlaufen. Aber hier war alles seltsam. Und er war der einzigste Mensch, den sie bisher getroffen hatte. In Remény gab es viele alte, aber schöne Häuser, alles war in einem ländlichen Stil gehalten. Jack begann wieder zu pfeiffen. Louisa ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte, und senkte ihren Blick beschämt, als er es bemerkte. Zum Glück lächelte er nur in sich hinein und pfiff weiter. Wohin wollte er sie nur bringen? Wer war dieser Freund, von dem Jack geredet hatte? Schattenwelt. Klang nach keinem besonders nettem Ort. Was sie nicht wusste (woher sollte sie es denn auch wissen), in der Schattenwelt gab es viele tückische Kreaturen, die auf den ersten Blick zwar harmlos wirken, aber in Wirklichkeit sehr gefährlich sein können. Vielen konnte man, wenn man sich nicht allzu ungeschickt anstellte, gut aus dem Weg gehen, aber wenn Zerberus einmal eine Beute gewittert hat, dann lässt er nicht mehr los, bis er sie vollständig zerfetzt hat. Das dauerte dann meist nicht sehr lange, denn Zerberus (sein Herrchen, der Schattenkönig nannte ihn "Lumpi", als wäre er das harmloseste Wesen der Welt) besaß drei Köpfe, und keiner war weniger schlecht bestückt mit Messergroßen Reißzähnen als die anderen Köpfe. Obwohl das in diesem Fall das bessere Unglück wäre, denn wenn sich Zerberus hin und wieder nicht dazu entschied, sein Opfer in sekundenschnelle zu zerreißen, schleppte er sie wie eine tote Maus auf die Schattenburg, und warf sie stolz seinem Herrchen vor. Nicht jeder hatte diese "Ehre", auf die Schattenburg zu gelangen. Entweder war man ein besonders böses Wesen, das das Interesse des Schattenkönigs geweckt hatte, oder man war ein Verbrecher, Verräter, ein Jemand, der den Schattenkönig zum Fall bringen wollte. Nein, es war wahrlich nicht von Vorteil, wenn man unbeabsichtigt auf die Schattenburg gelangte. Irgendwann würde auch Louisa das erfahren.
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Schattenkinder
FantasyPlötzlich wird es schwarz um Louisa. Als sie wieder zu sich kommt, befindet sie sich in einem verlassenen Tal in der Schattenwelt. Dort trifft sie auf den gleichaltrigen Jack, der genauso wie sie nicht weiß, wie er in diese Welt gelangt ist. Gemeins...