Kapitel I - Charleen (Teil 1)

71 3 0
                                    

Ich liebe mein neues Kleid. Es ist himmelblau und bauscht sich richtig schön auf. So viele Lagen Tüll sind es, dass ich nicht mal einen Reifrock drunter tragen muss, um es in seiner vollen Pracht zu zeigen. Das Oberteil ist mit weißen und silbernen Edelsteinen bestickt und liegt eng an. So funkelt es in der Nacht, als wäre es mit Tausenden winzigen Sternen besetzt. Ärmel hat es keine, aber breite Träger, die eher zur Dekoration dienen, denn sie fallen nur über die Schultern und bedecken meinen halben Oberarm.

Alleine schaffe ich es erst kaum hinein. Ich drehe mich um mich selbst. Eine Pirouette nach der anderen.

Eine.

Zwei.

Drei.

Das Kleid schwingt mit.

Ich liebe es.

Jetzt fehlen nur noch eine hübsche Frisur und mein Make-up für den Abend, nachdem nichts mehr so sein wird wie zuvor.

Als Mom und Dad mir von diesem Ball erzählten, habe ich ihnen nicht ein Wort geglaubt. Wir befinden uns schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert, aber sie haben es ernst gemeint. Ein Ball. Wie in einem Märchen. Wegen mir. Für einen Abend werde ich eine richtige Prinzessin sein und dafür benötige ich natürlich ein Kleid, das einer Prinzessin würdig ist.

Ich habe mich für Cinderella entschieden. Sie war mir von allen Prinzessinnen aus meinen Kinderfilmen schon immer die liebste gewesen und irgendwie sehe ich auch fast so aus wie sie. Weiches, blondes Haar fällt an meinem Rücken hinab, während ich mich noch ein weiteres Mal um die eigene Achse drehe. Ich mag es offen. Wahrscheinlich hat auch die echte Cinderella ab und an keine Lust gehabt hat, sich eine komplizierte Hochsteckfrisur zu zaubern. Die gute Fee kann schließlich nicht immer da sein.

Also nehme ich mir einfach meine Lieblingshaarspange mit weißen und blauen Edelsteinen und stecke damit die vorderen Haarsträhnen am Hinterkopf fest. Nun fällt mir nur noch mein seitlicher Pony leicht vor die Augen, der Großteil meines Gesichts ist frei von den Haaren. Frei genug, damit ich mich schminken kann.

Mein Make-up fällt simpel aus: ein wenig silberner Lidschatten und etwas Mascara. Vielleicht trage ich auch roten Lippenstift auf, das weiß ich noch nicht. Auf meiner blassen Haut setzt Lippenstift immer einen sehr schönen Akzent, aber ich bin mir unsicher, ob es nicht zu viel des Guten ist. Außerdem trage ich das Kleid gerade nur, um zu sehen, ob es passt. Der Ball findet erst morgen statt. Heute ist damit nur die Generalprobe. Es darf keine Falten werfen, zwicken oder irgendwo reißen, wenn ich mich strecke. Das ist meine einzige Chance, einmal eine richtige Prinzessin zu sein, bevor sich alles ändern wird. Morgen werde ich achtzehn und damit erwachsen.

Meine Eltern werden mir mehr Pflichten auferlegen, damit ich eines Tages in der Lage sein werde, unser Hotelgewerbe so zu führen, wie sie es schon seit über zwanzig Jahren tun. Aber daran will ich nicht denken. Ich will eine Prinzessin sein und am liebsten jeden Tag wallende Kleider tragen.

Meine normalen Sachen sind zwar auch nicht schlecht, doch was sind ein Rock und ein Oberteil von Valentino bitte schön im Vergleich zu einem maßgeschneiderten Kleid, das dem von Cinderella ebenbürtig ist?

Doch auch die schönste Anprobe ist irgendwann mal vorbei. Ich befreie mich aus dem Tüllberg und schlüpfe in meine stinknormalen Alltagskleider. Ich fühle mich merkwürdig nackt. Der Tüll um meine Hüften und Beine fehlt. Ja, ich wäre gerne jeden Tag Prinzessin.

Ich seufze, verstaue die Haarspange, die perfekt zu meinem Outfit passt, wieder in einem kleinen, weißen Säckchen und packe es in meinen Schminktisch.

Dann mache ich mich auf den Weg zum Abendessen mit meinen Eltern. Es ist das letzte Abendessen, bei dem sie mich wie ein Kind behandeln. Morgen bin ich erwachsen. Damit bin ich ein gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft. In ihren Augen. Als ob ich das jetzt noch nicht wäre. Aber ich habe schon lange aufgegeben, ihnen das zu erklären.

Cinderellas PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt