Kapitel I - Charleen (Teil 2)

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Wir essen. Reden nicht. Der Tisch in unserem Esszimmer ist viel zu groß, als dass man sich gut darüber hinweg unterhalten könnte. Fast vier Meter lang und zwei Meter breit. Aber es gibt nur vier Stühle und die werden jeden Abend von den gleichen vier Mitgliedern dieser Familie besetzt.

Mein Vater, ein ausgekochter Geschäftsmann, der auch beim gemeinsamen Essen stets einen Anzug trägt. Sein markantes, kantiges Gesicht mit Schnauzer über der Oberlippe zeigt ein Pokerface, das nicht einmal Frau und Kinder durchschauen. Sein einst volles schwarzes Haar ist bereits ergraut, aber das lässt ihn noch härter wirken. Niemand legt sich freiwillig mit ihm an.

Meine Mutter zieht - fast wie mein Vater - meistens die feinsten, elegantesten Hosenanzüge an und stellt diese auch gerne zur Schau. Hohe Schuhe, die bei jedem Schritt klackern, sind dabei Pflicht. Das hellblonde Haar, bei ihr zu einer kurzen Bobfrisur geschnitten, habe ich von ihr geerbt. Auch sie ist nicht mehr die Jüngste, um den Hals trägt sie ihre obligatorische Perlenkette. Jeden Abend sitzt sie so steif bei Tisch, als ob sie einen Stock anstelle ihres Rückgrats einoperiert bekommen hätte, und auch mich herrscht sie Tag für Tag an, ich solle mich gerade halten.

Es gibt Tage, an denen ich förmlich Angst vor ihr habe. Es sind die Tage, an denen ein Treffen mit den Daughters of American Revolution nicht so verläuft, wie sie es gerne hätte. Die Tage, an denen sie nicht ihren Willen bekommt, und manchmal reicht es schon, wenn ich mit der Kreditkarte meines Vaters etwas kaufe, das nicht ihren Vorstellungen entspricht.

Aber sie bleibt nach wie vor meine Mutter. Ich glaube, sie will nur das Beste für ihre Tochter.

Der Einzige, dessen Anwesenheit mich nicht Abend für Abend einschüchtert, ist mein Bruder. Er ist zwei Jahre jünger als ich und hat dunkelblondes Haar. Er sieht entspannt aus - das ist auch nur verständlich, denn auf ihm lastet nicht der Druck, der bald auf mir lasten wird. Als Zweitgeborener ist er frei, um zu tun oder zu lassen, was er möchte. Momentan kostet er diese Freiheit aber nicht aus. Sein Taschengeld ist so hoch wie meins und doch gibt er nicht mal einen Bruchteil davon aus. Der kleine Betrag, der jeden Monat den Besitzer wechselt, landet in den lokalen Buchhandlungen. Oder in Möbelhäusern, wo er sich neue Regale besorgt.

Wäre ich an seiner Stelle, würde ich im Stil der Rich Kids of Instagram gewaltig die Sau herauslassen, aber ich bin die Erstgeborene. Die, die später einmal den Namen der Familie mit Ehre tragen soll und dafür eine weiße Weste braucht. Nicht der kleinste Fehltritt ist mir vergönnt. Ich muss perfekt sein.

Wie eine Prinzessin.

Zur Feier meines achtzehnten Geburtstags hält meine Mutter es daher für eine gute Idee, einen Ball zu veranstalten. Als Zeichen. Für sie bin ich die Prinzessin und bald ist es Zeit, meinen Thron zu besteigen.

»Wie laufen eigentlich die Vorbereitungen für morgen?«, fragt William, um unser allabendliches Schweigen zu brechen. Ich will ihn dafür schlagen und gleichzeitig umarmen. Ich hasse die Stille. Sie gibt mir immer das Gefühl, nur ein Gast in dieser Familie zu sein.

»Sehr gut. Heute ist endlich mein Kleid gekommen«, antworte ich zwischen zwei Bissen meiner extrem exotischen und extrem ekelhaften Nachspeise, deren Namen ich nicht aussprechen kann. »Es sitzt, als wäre es nur für mich genäht worden.« Das ist es ja auch.

Mutter räuspert sich. »Natürlich, Charleen. Für etwas anderes haben wir den Schneider ja auch nicht bezahlt«, hält sie mir vor, als wäre es ein Verbrechen, mich über die Passform meines perfekten Kleides zu freuen.

»Ich weiß, Mom«, erwidere ich gefasst. »Und trotzdem hätte es sein können, dass ich wachse, ab- oder zunehme. Deshalb freue ich mich, dass es so passt, wie es soll. Schließlich habe ich es heute zum ersten Mal angezogen.«

Damit gibt sie sich zufrieden. Ich bin froh, dass meine einfache Aussage nicht in eine stundenlange Diskussion ausartet, denn darauf habe ich heute wirklich keine Lust. Und Nerven habe ich erst recht nicht dafür.

»Der Ballsaal ist reserviert, die Einladungen geschickt und Antwortkarten ausgewertet. Der Caterer wird pünktlich liefern und das Buffet aufbauen. Es wird sicherlich ganz großartig«, schwärmt Mutter. Auch sie liebt Bälle und prunkvolle Kleider. Ich vermute ja, dass sie in jungen Jahren auch immer von einem richtigen Ball geträumt hat und da sie sich selbst diesen Traum nicht erfüllen konnte, lebt sie ihn nun durch mich.

Ich bin ihre Prinzessin.

Ihre Vorzeigetochter.

Aber das ist in Ordnung.

Ich kenne es nicht anders.

Ich spiele meine Rolle, habe sie verinnerlicht.

Ein anderes Leben gibt es für mich nicht.

Cinderellas PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt