An der Haltestelle

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Sie zitterte am ganzen Körper als sie aufwachte. Ihr Kopf schmerzte, drohte beinahe zu zerplatzen und die plötzliche Helligkeit brannte in ihren Augen. Langsam richtete sie sich auf und versuchte irgendwo Halt zu finden, was ihr jedoch kläglich misslang. Verwirrt strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und blickte sich um. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das fahle Licht der Straßenlaternen. Und erst als sie wieder sehen konnte, nahm sie die Stimmen und sich herum wahr, erkannte, dass sich hier noch viele weitere Personen befanden.

Sie hörte das Rascheln der Blätter, Regentropfen, die auf die Straße fielen. Autohupen, Hundegebell, Kindergeschrei. Doch dies verwirrte sie nur noch mehr. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, blinzelte und sah plötzlich den Laden, der sich vor ihr befand. ,,Ottos Bücherladen'' war mit einer großen, unordentlichen Schrift auf ein Schild geschrieben worden. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte wo sie sich befand: An der Haltestelle. Wie konnte sie nur so dumm sein? Beinahe hätte sie angefangen über sich selbst zu lachen. Es war doch ihre ganz persönliche und geliebte Routine.

Wie jeden Freitag saß sie hier auf der Bank und wartete auf John. Jeden Freitag der nervöse Blick auf die Uhr, das Herzrasen wenn die Bahn angefahren kam, das erfreute Lachen wenn John ausstieg und sie begrüßte. Jeder Freitagabend sah so aus wie der heutige, nur mit dem Unterschied, dass sie dieses eine mal eingeschlafen war. Doch das machte nichts, John würde noch kommen, auf ihn konnte sie sich verlassen. Wahrscheinlich hatte seine Bahn Verspätung, oder sein Chef wollte ihn noch nicht gehen lassen.

Beinahe erleichtert atmete sie aus und kramte ein Buch aus ihrer Tasche. Sie zupfte sich die Flusen aus ihrer Jacke, lehnte sich zurück und entspannte sich. Dann schlug sie ihr Buch auf und versuchte die Haltestelle, John und die Umgebung um sich herum für einen Moment zu vergessen und stattdessen in die Geschichte, die sich vor ihr Schwarz auf Weiß befand, einzutauchen. Doch so sehr sie sich auch bemühte und anstrengte, schon nach dem ersten Satz holte sie die Müdigkeit ein.

Ein Blick auf die Anzeigetafel verriet ihr, dass die nächste Bahn in 15 Minuten kommen würde, es blieb ihr also noch genug Zeit um sich die Beine zu vertreten und wach zu werden. Sie würde zu Ottos Bücherladen gehen und das Buch kaufen, dass John sich schon so lange gewünscht hatte. Gerade wollte sie aufstehen, da sah sie ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe eines Autos, das in der Nähe der Haltestelle parkte. Sie sah ihre zusammengebundenen und dennoch durcheinander geratenen Haare, ihr blasses Gesicht mit der verwischten Schminke, ihr langes schwarzes Kleid, das sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte und ihre schwarzen Schuhe, die von dem Regen völlig durchnässt waren.

Erst da realisierte sie, dass sie sich auf dem Weg zu Johns Beerdigung befand.

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