4. Wut

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Ganymed wusste nicht, wie lange sie dort standen und sich anstarrten.

Er wusste nur, dass sein ganzer Körper von Zeus in Besitz genommen zu sein schien. 

Am ganzen Körper verspürte er ein erregtes Kribbeln und wenn die Arme des Gottes nicht fest um ihn geschlungen wären, hätten seine Beine ihm sicher den Dienst versagt.
Nichts um sich herum nahm der Junge mehr wahr, nur Zeus’ heißen Atem auf seiner Haut als dieser sein Gesicht mit Küssen, zart wie Schmetterlingsflügel bedeckte.

Zeus’ weiche Lippen auf seiner Haut.

Zeus’ Hände, die seinen Rücken entlangfuhren.

Zeus’ Körper, er gegen seinen gepresst war und ihn um den Verstand brachte.

Ganymeds Blick blieb am Gesicht seines Gegenübers haften, prägte sich jeden einzelnen Zug ein, als wäre alles nur ein Traum, aus dem er bald aufwachen würde. Ein Traum, an den er sich nicht erinnern würde oder sich nur wie durch einen dichten Vorhang erinnern könnte.

Ein weiteres Mal fanden ihre Lippen zueinander. Zeus’ Zunge strich, wie um Einlass bittend, über Ganymeds Unterlippe und er öffnete leicht die Lippen.

Ihre Zungen umtanzten einander sanft, bis sie stürmischer wurden und sich einen Kampf lieferten, den keiner von beiden gewinnen würde.

Der Kuss wurde gieriger, fast schon schmerzhaft pressten sie die Lippen gegeneinander. 

Wie ein Ertrinkender klammerte sich Ganymed an den Gott, der seine Arme noch fester um ihn schlang.

Außer Atem lösten sie sich voneinander.

Ganymed hatte sich so sehr auf Zeus’ Lippen und dessen Körper konzentriert, dass er das Atmen völlig vergessen hatte. Innerlich lächelnd streichelte Zeus dem blondgelockten Jungen geistesabwesend über die Wange.

Er hauchte Ganymed einen Kuss auf die Schläfe.

„Es ist spät, mein Kleiner“, flüsterte er. Ein letzter glühender, verhangener Blick und er verschwand in die Nacht.

Einige Augenblicke lang starrte Ganymed ihm nach. Dann ließ er sich auf einen Stein sinken und barg das brennende Gesicht in den Händen.

Das war gerade nicht wirklich geschehen, oder?

Der Junge versuchte sich einzureden, dass es nur ein sehr realistischer Traum war, es war immerhin mehr als unmöglich dass Zeus, der oberste aller Götter, ihn, den Schafjungen, vom Fest fortlockte und… der Gedanke daran, ließ Ganymeds Gesicht nur noch glühender werden.

Noch nie zuvor war Ganymed geküsst worden, erst recht nicht so leidenschaftlich und innig.

Unwillkürlich musste er lächeln. Das hatte er nicht vorhergesehen. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich das ausgemalt.

Doch im nächsten Moment verschwand seine Glückseligkeit auf einen Schlag. Vielleicht war das nur geschehen, weil Zeus so betrunken war und nicht mehr wirklich wusste, was er tat. Es war sicher unter seiner Würde, Zärtlichkeiten mit einem Menschen auszutauschen, besonders bei all den Göttinnen und Göttern auf dem Olymp, die alle mit Vorzügen ausgestattet waren, die Ganymed niemals haben würde.

Vermutlich würde sich Zeus nach einem erholsamen Schlaf, morgen schon gar nicht mehr erinnern können. Oder er würde die Erinnerung nur für einen dummen Traum halten.

Dieser Gedanke trieb Ganymed Tränen in die Augen, die ihn erschreckten. Was hatte er erwartet?  Zeus war ein Gott und er war nur ein Mensch, der auf den Olymp gebracht wurde, um das Haustier des obersten Gottes zu sein. Da machte es doch nur Sinn, dass Zeus seine Launen auslebte und das was eben geschehen war, war wohl auch eine Laune.

Ganymed und die GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt