12. Hellsicht

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Einen großen Vorteil hatte das Leben auf dem Olymp schon manchmal, fand Ganymed.

Natürlich abgesehen von den Leuten, die darauf wohnten.

Er hatte es schon immer sehr geliebt, lange und ausgedehnte Spaziergänge zu machen, wann immer es ihm die Arbeit mit den Schafen erlaubte. Er hatte es immer sehr abenteuerlich gefunden, durch die Umgebung zu streifen und immer wieder neues zu entdecken. Bei jedem Abenteuer hatte er eine neue Höhle gefunden, oder eine Waldlichtung, die er noch nicht gekannt hatte, oder eine Pflanze, die er noch nicht gesehen hatte. 

Es hatte ihm immer geholfen, sich über das harte, entbehrungsreiche und triste Leben in den Bergen hinwegzutrösten. Wann immer er sich über sein langweiliges Leben geärgert hatte, in dem ja doch nie etwas geschah, hatte er sich auf seinen Streifzügen davon überzeugen können, dass es auch hier oben immer wieder etwas Neues zu sehen gab. 
Jedes Mal hatte er sich gewundert, wie viel es dann erst im Rest der Welt zu entdecken gab.

Vor vielen Jahren hatte Ganymed sich fest vorgenommen, es eines Tages herauszufinden. 

Er wollte hinaus in die Welt ziehen und alles hinter sich lassen, so wie die vielen Helden in den Geschichten, die abends am Herdfeuer erzählt wurde. Er wollte die Stadt sehen, ein großer Krieger werden und zu Ruhm kommen.

Stattdessen war er nun hier – nicht in der Stadt, kein Krieger und Ruhm erlangt hatte er auch nicht. Und doch hatte er mehr erreicht, als er je zu träumen gewagt hätte. Er lebte unter den Göttern. Kein Mensch konnte sich das vorstellen. 

Ganymed jedenfalls wunderte sich jeden Morgen beim Aufwachen aufs Neue, ob er nicht nur geträumt hatte.

Auch hier auf dem Olymp gab es viel zu entdecken und weites Land, das ihn lockte. Doch obwohl es hier keine wilden Tiere gab, die er auf der Erde noch hinter jedem Baum vermutet hatte, musste er immer vorsichtig sein.

Die Götter mochten es nicht, gestört zu werden. Sie konnten es nicht leiden, wenn jemand ungefragt ihr Gebiet betrat. Wenn sie gefunden werden wollten, kamen sie hervor, sonst beschäftigten sie sich lieber mit sich selbst. Nur bei wenigen Göttern musste Ganymed nicht auf der Hut sein und durfte sie jederzeit besuchen kommen, ob angemeldet oder nicht. 

Sogar Artemis und Ares Gebiet, auf dem er einst um sein Leben fürchten musste, war nicht länger verboten für ihn. Obwohl Ares ihn noch immer nicht leiden konnte und vermutlich am liebsten aus dem Weg geschafft hätte. Doch er konnte Ganymed nichts tun.

Er war immerhin inzwischen ein Teil des Olymps.

So träumte Ganymed vor sich hin, während er gerade den weißen Kiesweg entlang ging, der zur Aussichtsplattform führte. Das Weiß der Steine bildete einen schönen Kontrast zum smaragdenen Grün  des Grases, das den Weg umsäumte. Das machte die Schönheit des Olymps aus – reinweiß und smaragdgrün.

Er war beinahe an der Treppe angelangt, da glaubte er, hinter einem Baum eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Instinktiv blieb er stehen und wandte den Kopf zur Seite.

Als er erkannte, was die Bewegung verursacht hatte, fuhr ihm der Schreck in die Glieder und er machte ruckartig einige Schritte rückwärts. Eine Sekunde lang glaubte er, von der grellen Sonne einen Sonnenstich zu haben, doch andererseits fühlte er sich nicht wirklich, als hätte er Wahnvorstellungen.

Eine junge Frau stand neben dem Baum und sah schüchtern zu ihm hinüber. Es war sinnlos, ihr Alter bestimmen zu wollen, immerhin begegnete man keinem göttlichen Wesen das unabsichtlich älter als zwanzig Menschenjahre schien. Sie hatte blasse Haut und blauschwarz schimmerndes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. Ihre dunklen Augen und die schweren Lider verliehen ihr einen melancholischen Ausdruck.

Ganymed und die GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt