Schmerzen oder Wut?

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Ihre Knöchel sind schon wieder ganz blau geschlagen. An manchen Stellen ist die Haut aufgeplatzt. Ihre Hände zittern, während ihre Miene wie versteinert wirkt. Er sieht sie an und versucht zu erkennen, ob sie Schmerzen hat. Doch er kann es nicht erkennen, ihr Blick ist eiskalt, als sie ihm in die Augen sieht. „Was ist?", fragt sie trocken. „Deine Hände... was ist passiert?", versucht er vorsichtig zu ergründen, wie es ihr geht. „Box Sack" murmelt sie nur zurück. „Hab keine Handschuhe gefunden", fügt sie noch hinzu, als sie seinen fragenden Blick sieht. Ihr Blick schweift über die Landschaft um sie herum, doch plötzlich hält sie inne. Ihr Blick ist an etwas hängen geblieben, etwas das er nicht sehen kann. Er versucht es schon gar nicht mehr. Herauszufinden was sie sieht. Aber was es auch ist, es tut ihr weh. Die Kälte in ihrem Blick weicht augenblicklich Schmerz. Er nimmt ihre Hand, will ihr zeigen dass sie nicht alleine ist. Ihre Hände sind eiskalt und zittern, so wie immer. Sie weicht seinem Blick aus, so wie immer. Sie entzieht sich seiner Berührung, so wie immer. Doch dann steht sie auf. Als würde ein Schlag durch ihren Körper gehen, springt sie von dem Heuballen, auf dem sie bis vor einer Sekunde noch gesessen hat. Doch der unebene Boden, des frisch gemähten Weizenfeldes macht ihr einen Strich durch ihre Rechnung. Sie strauchelt. Kurz überlegt er, ob es auch an dem Schwindel liegen kann, der sie jeden Tag begleitet. Doch sie fällt. Sie versucht nicht einmal, sich abzufangen. Er weiß, dass es keinen Sinn hat, ihr hoch zu helfen. Sie sitzt einfach nur da, kniend auf dem nassen Boden. Sie sieht noch immer in die Ferne. Nicht so wie, sie es eben getan hat. Nein, was auch immer sie gesehen hat, es ist weg. Sie sucht danach. Dann sieht sie nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde, sieht er ihr Gesicht. Er sieht die Tränen. Dann erkennt er, weshalb sie nach oben sieht. Es regnet. Nun steht er doch auf und geht zu ihr. Er streckt seine Hand aus „Lass uns gehen". Er hat schon vorher gewusst, dass sie dem nicht zustimmen würde. Sie sieht ihn nicht an. Ihre Augen sind starr nach vorne gerichtet und er weiß, dass sie gerade niemanden ansieht. Sie ist nicht hier. Sie ist weit weit weg, in ihrer ganz eigenen Welt. Einer Welt zu der nicht einmal er Zutritt hat. Seufzend setzt er sich neben sie auf den Boden, nass ist er sowieso schon. Wieder sieht er sie an. Ihre Augen sind so leer. Es ist keine ausdruckslose Leere. Es ist eine schmerzhafte Leere, die er noch nie bei einem Menschen gesehen hat. Er sieht auch die Tränen. Keine Tränen aus Wut. Keine Tränen aus Trauer. Tränen aus purer Verzweiflung. Verzweiflung, die bis in ihr tiefstes Inneres gehen muss. Er würde sie gerne fragen, weshalb sie so unendlich verzweifelt ist. Aber er weiß, dass er auf die Frage keine Antwort bekommen würde. Sie muss beginnen zu reden. Nicht er.

„Ich war einfach so wütend", flüstert sie nach langer Zeit des Schweigens. Ihre Stimme ist so leise, dass er sich nicht sicher ist, ob sie überhaupt mit ihm redet. Aber er antwortet dennoch, auf die Gefahr hin sie wieder zu verlieren. „Weshalb warst du wütend?" fragt er fast ebenso leise wie sie. „Weil es so weh tut..." beginnt sie heißer ihre Stimme zu finden. „Es tut weh. Jeden einzelnen Tag tut es so weh. Dieser Schmerz... ich halte ihn nicht aus. Er ist tief in meinem Herzen und bringt es dazu nicht aufzuhören zu schlagen. Er ist in meinem Kopf und bringt ihn dazu nie zu schweigen. Er ist tief in meiner Seele und bringt sie dazu zu brennen. Er ist in meinen Lungen und gibt mir das Gefühl nicht atmen zu können. Er ist überall zu jeder Zeit. Ich bin so unendlich müde, weißt du? So fertig und kaputt. Ich möchte die Augen schließen und es vergessen. Ich möchte vergessen, dass sie tot ist. Ich möchte vergessen, dass sie in meinen Armen starb. Ich möchte den Augenblick vergessen, als ich spürte wie ihr Herz aufhörte zu schlagen. Ich möchte nur einen Moment der Stille, kannst du das nicht verstehen? Einen kurzen Moment in dem ich nicht denke, nicht fühle und nicht innerlich sterbe. Denn das ist es was ich tue. Jeden Tag sterbe ich innerlich. Direkt vor deinen Augen verrecke ich an diesem Schmerz. Und es macht mich so wütend, dass das niemand erkennt. Niemand sieht ihn. Meinen Schmerz. Niemand hört die stummen Schreie. Niemand sieht wie ich nach Luft ringe, wenn ich das Gefühl habe zu ersticken. Nein ihr seht nur, dass was ihr sehen wollt. Du siehst nur das, was du sehen willst. Du siehst jeden blauen Fleck, jede noch so kleine Schramme. Du siehst mich an, als würde ich jeden Augenblick zusammenbrechen. Du siehst mich an, als würde ich jeden Moment jemanden brauchen, der mich hält. Du nimmst meine Hand um mir zu zeigen, ich bin nicht alleine. Aber ich sage dir mal was, ich breche nicht zusammen." Ihre Stimme wird nun immer lauter. „Ich bin es längst. Wie eine Marionette, der man alle Fäden abgeschnitten hat. Ich bin längst zusammengebrochen. Lange bevor du mich auf dem Fußboden der Mädchentoilette gefunden hast. Ich bin nicht der Mensch, den du zu kennen glaubst. Ich bin niemand. Ich habe keine Identität. Kein Leben. Keine Zukunft. Ich bin tot! Hörst du? Tot! Ich bin ein niemand, weil ich längst gestorben bin. Mein Herz schlägt. Durch meine Adern fließt warmes Blut, aber in mir drin, ist alles eiskalt. In mir drin ist alles tot. Kein Funke Leben. Kein Funke Hoffnung. Nur Schmerzen. Weißt du auch warum? Es sind Schmerzen von einem Körper, der nach dem Tod der Seele weiterlebt. Weil es ihm niemand verdammt nochmal ermöglicht, zu sterben. Weil er weiter kämpfen muss, ohne Antrieb. Ohne Kraft. Schau mich doch an. Was siehst du? Was findest du an mir. Ich liebe dich nicht. Ich bin gar nicht mehr fähig zu lieben. Ich werde nie fähig sein, deine Gefühle in irgendeiner Art zu erwidern. Ich bin fertig. Hörst du? Kaputt, zerbrochen, ausgelaugt, am Ende meiner Kräfte. Ich kann einfach nicht mehr..." Die letzten Worte waren kaum mehr ein flüstern. „Und niemand sieht das. Niemand erkennt, was wirklich los ist. Alle sehen nur ein Mädchen mit Narben. Ich bin kein Mädchen mit Narben. Das hier ist nur ein Körper mit Narben. Ein Körper, der nur weiter lebt, weil sein verdammtes Herz einfach nicht aufhört zu schlagen. Aber es gibt kein Mädchen. Es gibt keinen Menschen, es gibt kein ich mehr. Schon so lange nicht mehr...", fügt sie etwas klarer hinzu. Er sieht sie an. Er schluckt schwer. Er hat so viele Fragen. So viele Dinge, die er nun gerne sagen würde. Doch er schweigt. Und zum ersten Mal versteht er sie. Er versteht, dass es Momente im Leben gibt, in denen nichts was man sagt. Nichts was man tut, auch nur im Entferntesten beschreiben könnte, wie man sich fühlt...


Die stummen Schreie der SeeleWhere stories live. Discover now