Er hatte sie schon die ganze Stunde beobachtet. Es schien ihm, als wäre sie so weit weg von dieser Welt. Doch wo auch immer sie mit ihren Gedanken war, es schien zu schmerzen. Wenn er genau hinsah, konnte er erkennen wie sie krampfhaft versuchte die aufkommenden Tränen weg zublinzeln. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Er wüsste zu gerne gegen was sie gerade kämpfte. Plötzlich stand sie auf. Er konnte für den Bruchteil einer Sekunde sehen wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich und rechnete schon fast damit sie würde zusammenbrechen, doch sie stand fest auf beiden Beinen. Er konnte nicht anders, als beeindruckt von ihr zu sein, solch eine Stärke hätte er ihr nicht zu getraut. Als sie nach der Türklinke griff, sah er dennoch wie ihre Hände zitterten. Die Tür öffnete und schloss sich wieder. Als sie auch einige Minuten später nicht wieder kam, beschloss er ihr zu folgen. Er wusste, dass er natürlich nicht auf die Mädchentoilette durfte und doch folgte er ihr. Er fühlte, dass etwas nicht stimmte. Obwohl er gerade einmal ihren Namen kannte, lag sie ihm dennoch am Herzen. Er hatte sie schon oft bewundert. Sie hatte einen starken Willen und wusste genau, was sie wollte. Sie hatte immer solch ein freches Grinsen auf dem Gesicht und ihre Wangen wurden ganz rot, wenn sie diskutierte. Wenn sie sich aufregte wippten ihre kurzen roten Locken auf ihren Schultern. Ihm war nicht entgangen, wie sie ihn immer wieder ansah. Er mochte sie. Aber er war nicht darauf vorbereitet gewesen. Die Toilette war leer. Nur sie stand am Waschbecken. Noch bevor sie ihn sehen konnte, hatte er sie im Spiegel gesehen. Er erschrak. Ihre Hände waren an die kalten Steine des Waschbeckens geklammert, so als würde sie ohne den halt verlieren. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie musste die Zähne fest zusammen gebissen haben, denn es kam kein Laut über ihre Lippen. Er hatte noch nie einen Menschen so lautlos leiden sehen. Er konnte ihren Schmerz fast schon spüren, als er einen Schritt nach vorne trat. Er erkannte, wie ihre Augen blitzschnell eiskalt wurden. Sie versuchte sich unter Kontrolle zu bekommen. Sie versuchte ihm zu zeigen wie stark sie wirklich war. Als ob sie das gemusst hätte, er wusste es längst. Für einen kurzen Moment sah sie ihm durch den Spiegel direkt in die Augen. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Doch nichts kam. Ihre Hände verkrampften sich fester. Ihr ganzer Körper stand unter Spannung, als würde er jeden Moment explodieren. Kaum hatte er es zu Ende gedacht, geschah es auch. Ihre Beine gaben nach, mit einem schnellen Schritt griff er ihre Arme, um sie zu halten, damit sie nicht fiel. Sie wehrte sich heftig gegen seine unerwartete Berührung, doch er hielt sie fest. Er hätte nicht gedacht wie viel Kraft in ihrem Körper steckt. Er spürte, dass sie schreien wollte, doch wieder kam kein Ton aus ihrem Mund. Die Tränen flossen nun erneut über ihre Wangen. Sie holte Luft und dann schrie sie. So einen Schrei hatte er noch nie in seinem Leben gehört. So voller Leid und Schmerz. Der Schrei eines gebrochenen Herzens. Einer misshandelten Seele. Augenblicklich ließ er sie los. Doch sie tobte. Sie schlug mit ihren Händen gegen die kalten Fliesen des Toilettenraumes. Ihr Atem ging schnell und angestrengt. Ihre Augen zuckten immer wieder hin und her. Wieder schwankte sie und er konnte sehen wie sie kurz die Augen schloss. Ihr musste schwindelig sein. Ein Wimmern drang, als einziger Laut über ihre Lippen. So gerne hätte er sie gehalten. Zu gerne hätte er ihr den Halt gegeben, um diese Qualen nicht alleine durchzustehen. Doch er traute sich nicht, sie noch einmal zu berühren. Wie im Nebel hatte er Hilfe geholt. Wie im Nebel konnte er sich an den Krankenwagen erinnern. Sie hatte gekämpft, wie eine Löwin gegen die Sanitäter, doch sie gaben ihr etwas zur Beruhigung. Innerhalb von Sekunden sackte ihr Körper auf dem grauen Boden des Raumes in sich zusammen. Wie im Nebel wusste er noch, dass er mitgefahren war ins Krankenhaus.
Und hier sind sie nun. Die Wirkung des Beruhigungsmittels lässt langsam nach, aber sie schläft. Er sieht sie an. Ihre Augen sind geschlossen, aber sie ist nicht ruhig. Irgendetwas quält sie bis in den tiefen Schlaf hinein. Sie ist so blass, dass sie sich kaum von den weißen Laken abhebt. Unter ihren Augen sind dunkle violette Ringe zu erkennen. Angespannt hat sie die Lippen fest zusammen gepresst. Er betrachtet sie weiter. Ihm ist nie aufgefallen wie dünn sie wirklich ist. Doch jetzt in dem Krankenhauskittel kann er deutlich jede Rippe sehen. Ihre Beckenknochen heben sich selbst durch die Decke ab. Er hat ihren Körper gesehen. Mit Schrecken ist er dabei gewesen, als sie ihre Klamotten aufschnitten. An ihren Beinen sind deutliche blaue Flecken zu erkennen. Einige sind schon fast nicht mehr sichtbar und schimmern nur noch leicht grünlich. Doch an ihrem Bauch sind noch viel stärkere Verletzungen zu erkennen. Grüne und dunkelblau ziehen sich riesige Blutergüsse über Rippen und Bauch. Zwei Rippen sind angebrochen, hatte ihm der Arzt gesagt. Sie muss extreme Schmerzen beim Atmen haben, hatte der Arzt gesagt. Er hatte ihr ein Schmerzmittel gegeben. Vorerst hatte er noch niemanden verständigt, doch er sagte zu ihm, dass diese Verletzungen eindeutig auf Misshandlung deuten würden. Er sieht sie an. Vorsichtig streicht er über ihre Arme. Unter seinem Daumen kann er etwas spüren, was ihm schon zuvor aufgefallen ist. Narben. Unzählige Narben sind an ihrem ganzen Körper verteilt. Auch er weiß, was für Narben das sind. Es sind Selbstverletzungsnarben. Von Schnitten, die sich selbst zugefügt hat. Er fährt mit dem Finger über ihre Handknöchel. Einige sind aufgeplatzt und blau unterlaufen von den Schlägen gegen die Wand. Doch er erkennt noch etwas. Blaue Flecken, welche schon fast verheilt sind. Sie sind kaum zu sehen und doch sind sie da. Und da versteht er. Sie wird misshandelt. Doch es sind ihre eigenen Hände, die das tun. Ihre eigenen Hände fügen der Haut schnitte zu. Ihre eigenen Hände brachen sich selbst die Rippen. Sie selbst fügt sich solche Schmerzen zu. Sie verzieht das Gesicht. Ein leises wimmern kommt über ihre Lippen. Den Schmerz kann man deutlich hören. Doch sie dürfte eigentlich keine Schmerzen haben. Er nimmt ihre Hand vorsichtig in seine. Sie ist eiskalt. Wieder schaut er sie an und da versteht er es wirklich. Sie hat Schmerzen, Schmerzen, die sich wohl kaum ein Mensch auszumalen wagt. Es sind seelische Schmerzen. Schmerzen gegen die es kein Mittel gibt. Schmerzen, die ihr alle Kraft zum Leben geraubt haben. Schmerzen, die sie so einsam gemacht haben. Weil niemand diesen Schmerz erkannt hat. Sie hat diesen seelischen Schmerz zu körperlichem Schmerz gemacht. Sie hat versucht diese Schmerzen zu ertragen. Sie hat versucht sie zu überleben. Sie hat sich zwar die körperlichen Verletzungen zugefügt, aber die Schuld an ihrem Schmerz trägt ein anderer. Denn jemand hat sie so sehr verletzt, dass sie sich jeden Tag wünscht tot zu sein, um diesen Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen...
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Die stummen Schreie der Seele
NouvellesKurzgeschichten Sichtweise- Er/Sie -Trigger Warning- Sie leidet schon ihr ganzes Leben lang unter dem Schmerz des Lebens. Ihr Leben hat ihr alles genommen, was einmal von Bedeutung war. Tägliche Qualen und das Gefühl mehr tot als lebendig zu sein, b...