Ein markerschütternder Schrei zerriss die Dunkelheit. Nur Sekundenbruchteile reichten aus, um ihn hellwach zu machen. Er kannte diese Schreie. Er kannte sie aus all den anderen Nächten. Das Licht blendete ihn für einen kurzen Moment so sehr, dass er seine Augen wieder schließen musste. Sie schlief noch immer. Wobei er sich schwer tat, dies hier wirklich schlafen zu nennen. Sie litt Höllenqualen. Wimmernd krümmte sie sich, nur um dann erneut zu schreien. Wieder und wieder versuchte er sich Gehör zu verschaffen. Sie musste aufwachen, doch er wusste, dass es gefährlich war sie anzufassen. Er hatte schon das ein oder andere blaue Auge davon getragen. Sie schrie erneut, wand sich und schlug um sich. Doch er drang nicht zu ihr durch, egal wie laut er ihren Namen rief, er drang nicht zu ihr durch. Sie war gefangen. Ihr Atem beschleunigte sich. Immer wieder verschluckte sie sich im Schlaf. Ihre Schreie waren jetzt bloß och ein heiseres Wimmern. Sie verkrampfte sich, krallte die Hände in die Decke. Sein Herz fühlte sich an, als würde es in tausend Teile zerspringen. Sie so sehr leiden zu sehen, ertrug er kaum. Er wusste nicht, was sie so sehr quälte. Er wusste nur wie er hieß. Er kannte seinen Namen. Sie sagte diesen Namen wieder und wieder. Selbst im Schlaf rannen ihr nun die Tränen über die Wangen. Noch nie zuvor hatte er einen Menschen im Schlaf weinen sehen. Er ertrug es nicht sie so sehr leiden zu sehen. Er griff ihre Hand und strich behutsam über ihr Gesicht. Mit einem Ruck fuhr sie aus dem Schlaf. Für eine Sekunde konnte er die Erleichterung in ihren Augen sehen. Doch nur einen Moment später entriss sie sich seiner Berührung und sprang auf. Verwirrt ließ sie ihn zurück. Diese Reaktion hatte er nicht erwartet und es dauerte einen Augenblick, bis er ihr folgte. Sie kniete im Badezimmer auf den kalten Fließen, den Kopf an die Wand gelehnt. Tränen liefen ihr unaufhörlich über die Wangen. Langsam ließ auch er sich auf den Fließenboden sinken. Sie sah ihn nicht an, aber er hatte es gesehen, den Schmerz in ihren Augen. Sie war blass, so sehr, dass er befürchtete sie würde gleich das Bewusstsein verlieren. Sanft strich er über ihre Hand. Für einen kurzen Augenblick sah sie ihn an, doch dann verkrampfte sich ihr Körper. Sie würgte wieder und wieder. Er hielt ihre Haare während sie sich zitternd erbrach. Sie hatte nicht einmal die Kraft an die Spülung der Toilette zu kommen. Zitternd lehnte sie mit halb geschlossenen Augen an der Wand. Er stand auf und holte ihr ein Glas Wasser. Ihre Hände zitterten so stark, dass er das Glas festhalten musste, während sie trank. Langsam beruhigte sich ihre Atmung. Sie räusperte sich ein paar Mal bevor sie ihre Stimme wieder fand „Können wir nach draußen gehen?" fragte sie ihn heißer. Er brachte nicht viel mehr, als ein nicken zustande. Es war Mitte Juli und demnach angenehm warm draußen. Der Himmel war klar und man konnte Millionen von Sternen leuchten sehen. Gedankenverloren zündete sie sich ihre Zigarette an und blickte in die Sterne. Es war das erste Mal, dass sie in den Himmel blickte, ohne dass er das Gefühl hatte, sie würde etwas oder jemanden suchen. Sie zitterte noch immer. Er schlang ihr eine Decke um die Schultern und setzte sich neben sie. Sie lehnte sich an ihn, irgendwie gab er ihr Kraft. Sie verstand nicht, weshalb er sie nicht alleine ließ. Er war noch hier. Stand ihr bei auf seine eigene Art und Weise. Obwohl sie so war, wie sie war. Obwohl sie ihm nichts zurückgab. Seine Stimme zerriss die Stille. „Willst du darüber reden?" fragte er sie. Er hatte mit allem gerechnet doch nicht damit. „Ja" gab sie leise zurück. „Aber ich kann nicht. Ich weiß einfach nicht wie. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen. Ich kann es nicht sagen. Ich kann es dir nicht erzählen.". Das war die Wahrheit, sie sagte ihm wirklich die Wahrheit. „Versuch es" startete er einen neuen Versuch. Sie sah ihn lange an. Er versuchte zu ergründen, was in ihr vorging, doch vergeblich. Er würde sie nie verstehen. Doch wieder erwartend begann sie zu sprechen: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Du siehst mich an, als wäre ich dir etwas schuldig. Als hättest du die Wahrheit verdient. Niemand hat dich gezwungen hier zu bleiben. Ich bin kaputt. Zu kaputt für dich und deinen Helfer Komplex. Versteh doch, du kannst mich nicht retten. Du kannst mich aufwecken, du kannst mich ansehen, doch du kannst mich nicht retten. Ich bin nicht deine Lebensaufgabe. Du bist zu spät. Vor Jahren hättest du mich retten können. Bevor ich einsam wurde. Bevor ich von allen Menschen in meinem Leben verlassen wurde. Bevor ich etwas tat, was ich nie hätte tun dürfen. Bevor ich ihn kennen lernte. Bevor ich auf den Menschen traf, dem ich mehr vertraute, als sonst jemandem. Du kennst seinen Namen sicher. Ich weiß, dass ich im Schlaf rede. Er war meine Rettung. Nur wegen ihm bin ich heute noch am Leben. Er war für mich alles, was ich mir jahrelang gewünscht habe. Er war mein Anker. Mein Fels in der Brandung. Er war mein Held und wie ein Vater. Ich habe ihn vergöttert, habe an seinen Lippen gehangen, wie ein verknallter Teenie. Obwohl ich es nie war. Ich war nie verliebt in ihn. Ich habe ihn geliebt, auf eine verwirrende Art und Weise. Doch nur emotional und nie körperlich. Ich war abhängig von ihm, er war meine Droge. Mein Lebenselixier. Endlich ließ das Gefühl der Einsamkeit ein wenig nach. Er machte mein Leben erträglicher. Ich war so abhängig von seiner Zuneigung, dass ich bereit war über all die anderen Dinge hinweg zusehen. Doch es wurde schwieriger. Von Tag zu Tag war es schwerer die Kommentare meiner Mitmenschen zu überhören, seine Blicke und Berührungen zu ignorieren und meine Angst auszublenden. Denn ja ich wusste es besser, es gab Momente, in denen ich nicht leugnen konnte, weshalb er das tat. Es war mir nicht egal. Aber es war auch nicht wichtig genug. Ich selbst war mir egal geworden. Ich vertraute meinem Gefühl, ich vertraute mir selbst, die so viel mehr in ihm sah. Ich nahm kaum wahr, wie sehr er mich manipulierte, mich wegtrieb von meinem Leben. Mich isolierte bis ich nur ihm gehörte. Bis ich abhängig von ihm war. Bis er mein Leben in seinen Händen hielt. Er hatte Jahre auf sich genommen, bis ich so weit war alles für ihn zu tun. Doch er erkannte den Moment, in dem ich nur ihm gehörte und nahm sich das, was er wollte. Er nahm sich mit über 50 Jahren eine 15 jährige und schlief mit ihr. Er vergewaltigte mich. Er zog mich aus und tat es. Er zeigte keine Reue, nicht mal ein Hauch Bedauern lag in seinem Blick. Er ließ mich liegen, als wäre ich nicht mehr als ein benutztes Spielzeug. So fühle ich mich. Missbraucht und ausgenutzt. Doch ihn trifft ebenso viel Schuld, wie mich. Ich ließ es zu. Ich begab mich selbst in Gefahr. Ich wusste worauf ich mich einlasse und hatte mich doch all die Jahre selbst belogen. Es ging ihm nie um mich. Dabei ging es mir immer nur um ihn. Aber das ist nicht der springende Punkt, der Teil von mir, der ihn geliebt hat, dieser Teil vermisst ihn noch immer. Jeden Tag und jede Nacht. Es zerreißt mich ihn zu hassen und so sehr zu vermissen. Jetzt weißt du es. Und nun? was tust du jetzt?" jetzt wich sie seinem Blick aus. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah. Sie hatte Angst er könne den wahren Grund für ihre Tränen erkennen. Denn die Wahrheit war, sie vermisste ihn wirklich. Sie vermisste den Mann, der sie vergewaltigt hatte. Sie vermisste ihn, weil er sie ohne Worte verstanden hatte. Weil er ihr die Kraft zum Leben geben konnte, die ihr nie zuvor ein Mensch geben konnte. Ja sie hasste ihn auch, aber gerade in diesem Moment fehlte er ihr. Seine starken Arme, die sie vor der ganzen Welt beschützen konnten. Er fehlte ihr so sehr, dass ihr Herz zu zerspringen schein. Diese Liebe würde nie vergehen, dessen war sie sich sicher. Doch dieses Gefühl durfte sie nicht fühlen. Sie durfte nicht so empfinden. Es war falsch. Doch wie sollte sie anders empfinden, wenn doch das die Wahrheit war?
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Die stummen Schreie der Seele
Short StoryKurzgeschichten Sichtweise- Er/Sie -Trigger Warning- Sie leidet schon ihr ganzes Leben lang unter dem Schmerz des Lebens. Ihr Leben hat ihr alles genommen, was einmal von Bedeutung war. Tägliche Qualen und das Gefühl mehr tot als lebendig zu sein, b...