Tatort Seminarraum

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Hunter

Der stickige Seminarraum füllt sich. Nach und nach treten immer mehr Menschen in weißen Kitteln und Kasacks in den frisch gestrichenen Saal. Seit exakt 40 Minuten sitze ich nun hier auf einem dieser ungemütlichen Seminarstühle und bespreche ein letztes Mal alle Einzelheiten der kommenden Feier. Keine Ahnung weshalb Milliarden an Steuergeldern für ein Klinikum ausgegeben, aber dafür jeder Cent für gemütliche Möbel abgezählt werden. Selbst in einer dieser schwedischen Möbelhäusern hätte man komfortablere Sitzgelegenheiten gefunden. Aber anscheinend legte man mehr Wert auf das Aussehen, als den Komfort.
Schon nach wenigen Minuten hatte mein Rücken begonnen zu schmerzen und meine Beine waren eingeschlafen.
Mittlerweile starre ich nur noch auf die Zeiger meiner erst kürzlich erstandenen Armbanduhr. Nur leise vernehme ich das gleichmäßige Ticken der 3000 Euro Uhr. Bezahlt mit meinem ersten Gehalt als Oberarzt.

Würde die Zeit doch mal so schnell verfliegen, wie die kurzen Mittagspausen.
Ich blicke auf den Kalender auf der anderen Seite des Saals. Seit 13 Tagen bin ich nun ununterbrochen am arbeiten.

Pflegenotstand und Urlaubszeit. Wie ich das liebe. Nur noch fünf Tage, bis zu meinen vier freien Tagen. Das werde ich nun auch noch durchstehen. Seufzend lehne ich mich auf dem ungemütlichen Plastikstuhl zurück und überlege was ich dann in meiner freien Zeit unternehmen werde. Seit ich die Beförderung bekommen habe, fühlt es sich an, als würde ich hier wohnen. Überstunden über Überstunden.

Ich weiß schon nicht mehr, wie sich Langeweile anfühlt.

Wenn ich spät abends in das Haus ankomme, dass sich Zuhause nennt, falle ich sofort ins Bett und schlafe die wenigen Stunden, bis ich wieder ins Klinikum fahren muss. Heute hatte ich einen langen anstrengenden Tag, zwei Notfälle und eine Menge Papierkram. Ich habe es nicht einmal geschafft, mich im Bad etwas frisch zu machen. Ich muss scheußlich aussehen.
Doch wenn ich genau überlege, wusste ich Zuhause nichts mit mir anzufangen. Seit ich mich erinnern kann, hatte ich mich in der Schule und später auf der Arbeit am wohlsten gefühlt. Die Beschäftigung, egal wie anspruchsvoll sie auch wurde, gab mir einen Sinn. Und noch wichtiger, sie schenkte mir Ablenkung. Meine Gedanken kreisten Zuhause immer nur um ein Thema und das schon seit langer Zeit. Vermutlich rettete mich nur der stressige Klinikalltag vor meinem Gedankenkarussell.

Gleich beginnt die offizielle Eröffnungsrede und ich sollte dann nicht mehr hier Sitzen, also werde ich meinen Platz wohl doch verlassen müssen, bevor immer mehr den Saal betreten und ich unnötige Konversationen führen muss.

„Tschuldigung, dürfte ich Sie bitten?", höre ich eine piepsige Stimme neben mir. Eine blonde junge Frau steht plötzlich neben mir, die dicke Kladde unter dem einen und eine Wasserflasche unter dem anderen Arm geklemmt.

Schüchtern blickt sie mich durch die dicke Hornbrille an. Auch sie trägt, wie die meisten hier weiße Kleidung. Sie wirkt wie eine der schüchternen Erstsemester Nerds, die auf alles eine Antwort parat hatten. Vermutlich war schon ihr alter Herr ein Arzt und auch sein Vater. Im Studium gab es einige dieser Möchtegern schlauen Tanten. Wobei die meisten von ihnen, zugegeben gut im Bett waren.
Als mir auffällt, dass ich sie viel zu lange prüfend angeschaut habe, springe ich viel zu ruckartig auf, wobei ich meinen Kaffee auf der kleinen Anrichte vor mir umkippe. Nicht nur die schüchternde Dame neben mir tritt zurück, sondern auch der Typ vor mir, der die braune Suppe in den Nacken bekommen hat, springt fluchend auf. Mein armer Kaffee.

Meine letzte Chance auf Koffein. Wütend schaut er zwischen uns hin und her. Am liebsten würde ich meinen Zeigefinger in ihre Richtung strecken, wie ich es damals immer bei meinen kleinen Brüdern getan habe, aber das wäre nicht fair. Immerhin scheint sie mit der schwarzen Hornbrille sowieso schon zu verunsichert zu sein und würde bestimmt anfangen zu heulen. Und dies würde noch mehr Aufmerksamkeit auf uns ziehen.

Ein Oberarzt zum Verlieben - geheimes Verlangen-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt