On my way

Sunrise

Jake schaut mich mit seinen braunen Augen an. Obwohl auf seinen Lippen ein leichtes Lächeln liegt, kann ich in seinen Augen deutlich die Müdigkeit erkennen, die die Nacht bei ihm hinterlassen hat. Sie sind mir so vertraut, dass ich jegliche Emotionen in ihnen ablesen kann; und das weiß er auch. Ich seufze leicht, woraufhin er einen Arm um mich legt. Während Jake sich eine Zigarette in den Mund steckt und sie anzündet, schaue ich geradeaus und sehe die Sonne über dem Meer aufgehen. 

"Mach dir keinen Kopf. Es wird sich nicht viel verändern." sagt er, da er meine nachdenkliche Stimmung bemerkt. Ich antworte ihm nicht. Nicht, weil ich nicht mit ihm reden will, sondern nur, weil ich nicht weiß, was ich sagen sollte.

Mit der Sonne, die sich gerade Stück für Stück über dem Ozean ausbreitet, beginnt auch der Sonntag. Und wir beide wissen, dass die letzte Nacht der Sommerferien vorbei ist. Da meine Eltern vielbeschäftigte Geschäftsleute sind, die noch nie Zeit hatten sich um ihr Kind zu kümmern, schicken sie mich jetzt auf ein Internat. Zugegebenermaßen bin ich kein perfektes Kind, was sich immer an die vereinbarten Regeln hält. In letzter Zeit kam es des öfteren zu Auseinandersetzungen mit der Polizei aufgrund von Ruhestörungen oder Briefen von meiner Schule, weil ich mal wieder nicht erschienen bin. Wenn sie mich im Internat einsperren, haben sie mich wenigstens ein bisschen unter Kontrolle.

Das Internat ist auch nicht das Schlimmste. Es ist ein Internat für angehende Surfer und wenn es eine Sache gibt, die ich mein ganzes Leben schon gut kann und liebe, dann ist es das Surfen. Mein Grandpa hat es mir beigebracht, als ich ein kleines Kind war. Man kann sagen, dass er für mich das einzige Familienmitglied war, zudem ich eine wirkliche Bindung hatte. Heute ist er tot. Mein Problem an der ganzen Sache ist, dass ich schon mein ganzes Leben mache was ich will. Meine Eltern haben mich immer mit einer Nanny zu Hause gelassen, wenn sie mal wieder auf Geschäftsreise waren. Da war es für mich immer leicht, alles so zu manipulieren, wie es mir gerade passt. Mit 4 konnte ich so viele Süßigkeiten essen, wie ich wollte und mit 14 konnte ich mich durch das Kellerfenster nach draußen schleichen, um so lange wegzubleiben, wie es mir gerade gepasst hat. Da meine Rebellion in letzter Zeit leider Überhand genommen hat, reicht es meinen Eltern.

Inzwischen hat Jake seine Zigarette aufgeraucht und schnippt sie die Klippe, auf der wir sitzen, runter ins Meer. Jake ist seit meine Eltern und ich nach Kalifornien gezogen sind mein bester Freund. Er wohnt im Haus nebenan und während meine Eltern meistens nicht da waren, weil sie arbeiteten, haben wir sehr viel Zeit miteinander verbracht. Er ist meine Familie.

"Wir sollten gehen, ich bin müde." sage ich und breche die angenehme Stille. Jake steht schweigend auf und reicht mir seine Hand um mich hochzuziehen. Die Sonne färbt das Wasser in einen angenehmes Orange und lässt es glitzern, während wir die Küste entlang laufen.

"Du weißt es wird sich alles verändern." Sage ich und schaue Jake an, während ich mir meine Haare zu einem lockeren Zopf binde. Das Internat ist zwar nur am anderen Ende der Stadt, allerdings ist es trotzdem zu Fuß kaum erreichbar.  "An unserer Freundschaft wird sich nichts ändern." versucht er mich aufzubauen. Das war typisch für ihn. Jake ist Optimist, wie er im Buche steht, was mich des Öfteren daran zweifeln lässt, warum wir so gut befreundet sind. Wahrscheinlich weil Gegensätze sich tatsächlich anziehen.

Die Straßen, auf denen wir laufen sind leer, was an einem frühen Sonntag Morgen nicht sonderbar ist. Ich werde immer erschöpfter und auch Jake scheint nicht mehr auf der Höhe zu sein, was nach einer langen Nacht voll von Alkohol und wildem Tanzen nicht verwunderlich ist.

Wie immer bringt er mich bis nach Hause und wir verabschieden uns. Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, realisiere ich, vielleicht das erste Mal richtig, dass ein neues Kapitel in meinem Leben beginnt. Und noch nie habe ich es so sehr bedauert, dass ich Veränderungen so verabscheue.