Es war kühl im Büro des 26. Stockwerks. Elena Martinez – ihres Zeichens Prüfungsleiterin und Nachkomme einer der mächtigsten Hüterfamilien der Welt – saß hinter ihrem Schreibtisch, die Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, der enge Anzug von einem fahlen Grau und ihr Blick so eisig wie die Atmosphäre hier drin. Mit einer Hand schob sie sich ihre Brille zurecht, mit der andern wühlte sie durch die Notizen auf ihrem Pult.
Sechs Monate war es her, seit ich das letzte Mal auf diesem unbequemen Holzstuhl gesessen war. Damals hatte die Prüfungsleiterin mir mit nüchterner Stimme erklärt, weshalb mein Examen abgebrochen worden war. Der Grund war nicht mein Zögern gewesen, als der Ghul mich angegriffen hatte, nicht meine innere Unruhe oder die Angst, die mich scheinbar gelähmt hatte. Nein – es war etwas so Unerklärliches, so Unverständliches gewesen, dass ich es erst gar nicht hatte glauben können.
Wenn ein Hüter 15 Jahre alt wurde, wurde er vor die wichtigste Prüfung seines Lebens gestellt: das Examen. Ein beinahe schon ironisch simpler Name für jenes einschneidende Ereignis, das alle jungen Hüterinnen und Hüter über sich ergehen lassen mussten, um in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Nur, wer sowohl über das Wissen als auch die erforderlichen kämpferischen Fähigkeiten verfügte, gegen die Wesen der Anderswelt – Untote, Dämonen und Wiedergänger – zu bestehen, durfte sich als ausgewachsener Hüter bezeichnen. Unterstützt wurden die Prüflinge dabei von einem Mentor – meist einem engeren Verwandten –, der sie auf dem Weg begleitete und dafür sorgte, dass sie das Examen ohne weitere Zwischenfälle hinter sich brachten.
So zumindest die Theorie. Die Wahrheit sah in meinem Fall völlig anders aus. Mein Mentor – mein älterer Bruder Viktor – hatte sich am Tag des Examens aus dem Staub gemacht. Während ich in der Dunkelheit der Lagerhalle umhergeirrt war, hatte Vik den Prüfungssaal überstürzt verlassen und war spurlos verschwunden – ohne Erklärung, ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, einfach weg, als wäre er nie da gewesen. Manchmal kam es mir vor, als wäre eine Ewigkeit seit jenem verhängnisvollen Tag vergangen, seit der Ungewissheit, der Sehnsucht und dem Schmerz, als mein Bruder mich im wichtigsten Moment meines Lebens verlassen hatte. Er war mehr als mein Mentor gewesen. Er hatte mich auf das Hüterexamen vorbereitet, mich trainiert und unterrichtet und mir die Zweifel genommen, die mich nachts wachgehalten hatten. Ich hatte geglaubt, dass ich mich auf ihn verlassen konnte, dass er immer für mich da sein würde, selbst wenn die ganze Welt mich aufgegeben hatte.
Als ich müde in das Sonnenlicht blinzelte, das durch die großen Fenster hinter dem Schreibtisch ins Büro fiel, und mir die Lehne des Stuhls unangenehm in den Rücken drückte, kamen all die Erinnerungen an jenen Tag wieder zurück zu mir. Ich hatte erst viel später begriffen, was damals wirklich geschehen war. Wochen danach hatte ich gehofft, dass Vik eines Morgens unerwartet wieder vor der Tür stehen würde, die Haare in alle Himmelsrichtungen abstehend, die Lippen zu einem schelmischen Grinsen verzogen. Die Räte sagten, dass er uns verraten habe, dass er weggelaufen sei, um sich vor seiner Verantwortung als Hüter zu drücken. Doch das glaubte ich nicht. Das wollte ich nicht glauben. Viktor war der mutigste Hüter, den ich je kennengelernt hatte. Er würde nicht einfach vor einer Herausforderung davonlaufen.
Nicht er.
»Nun«, setzte die Martinez mit emotionsloser Stimme an, nachdem sie von ihren Notizen aufgesehen hatte. Ihre Augen fixierten mich. »Ich muss dich leider enttäuschen, Maret: Du hast diese Prüfung nicht bestanden.«
Ich versuchte, wenigstens so zu tun, als wäre ich enttäuscht, aber es gelang mir nicht. Ich hatte mit diesem Resultat gerechnet. Schon, als ich den ersten Schritt in die Prüfungshalle gesetzt hatte und das Licht ausgegangen war, hatte ich gewusst, dass ich es nicht schaffen würde. Nach Viktors Verschwinden war das Ansehen unserer Familie auf ein neues Tief gesunken. Vermutlich hätte ich einen Sukkubus mit einem Schnürsenkel erdrosseln und einen Orb in einen Pfefferstreuer bannen können und der Senat hätte mich trotzdem durch das Examen fallen lassen.
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Anderswelt: Schattensuche (Band 1 der Anderswelt-Saga) [Leseprobe]
Fantasía»Ich habe keine Angst vor dem Tod. Vielmehr fürchte ich mich vor dem, was danach kommt. Sterben ist nicht schwer. Tot zu bleiben hingegen - das ist eine ganz andere Geschichte...« Nach dem unerklärlichen Verschwinden ihres Bruders Viktor versucht di...