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Als Lukas fünf Jahre alt gewesen war, hatte ein Dämon seinen Körper besetzt. Meine Erinnerung daran war fast vollständig erloschen. Ich war damals noch ein Kleinkind gewesen, kaum in der Lage, auf meinen eigenen Beinen zu stehen. Doch als ich nun die Treppe hinauf rannte, der Menge aus panischen und verwirrten Gesichtern entgegen, kam alles wieder zurück zu mir.

Ich erinnerte mich an die Schreie. An das Blut. An meine Eltern, wie sie sich Selbstvorwürfe gemacht hatten. An die Symbole an der Wand und an die grausame Stille, die nach dem Ritual eingesetzt hatte. Sechs erwachsene Hüter hatten mehr als einen Tag gebraucht, um den Dämonen in einem hilflosen Kind zu bändigen.

Ich war allein – und ich hatte nur Minuten.

Weshalb ich das tat? Ich wusste es selbst nicht. Es war nur ein Instinkt. Ein Stück von mir selbst, von der Maret, die ich gewesen war, bevor die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen. Ich war mal ehrgeizig gewesen. Es waren nicht viel mehr als ein paar Sekunden gewesen, in denen mein altes Ich die Kontrolle übernommen hatte. Aber sie hatten gereicht, um mich loslaufen zu lassen.

Ich hatte das Ende der Treppe noch nicht erreicht, als ich meine Entscheidung bereits bereute. Mein Puls raste, mein Oberteil war von Schweiß durchtränkt und aufkommende Panik schwappte wie Wellen durch meinen Körper; immer höher und höher. Ich wollte mich übergeben, meinen zitternden Beinen folgen und mich irgendwo in eine dunkle Ecke verkriechen.

Ich war ein Feigling. Seinem Überlebensinstinkt nachzugeben bedeutete, irgendwo einen Menschen sterben zu lassen. Das war es, was mir seit meiner Geburt immer wieder eingeprägt worden war. Unsere Aufgabe war es, zu beschützen. Zu helfen. Alles dafür zu geben, dass die Blicklosen vor der Anderswelt beschützt wurden – und umgekehrt.

Ich schob diese Gedanken rasch zur Seite und zwang mich weiter. Der Flur im zweiten Stockwerk war menschenleer. Natürlich. Wer kam auch auf die Idee, einem mordlustigen Besessenen direkt in die Arme zu laufen?

18 Meter.

Der Pfeil auf dem Display des Signalators zeigte geradeaus. Die Ägypten-Ausstellung, wo Yannik sich mit ein wenig Glück immer noch befand, lag auf der rechten Seite. Mein Herz machte einen Sprung. Für einen Moment flackerte Hoffnung in mir hoch. Vielleicht hatte ich Glück und seine Körperteile lagen noch nicht in blutigen Fetzen am Boden verteilt.

Ein Blitzschlag erhellte den Ausstellungsraum für einige Sekunden. Ich versuchte, mir so viele Details wie möglich einzuprägen, bevor die Dunkelheit wieder zurückkehrte. Dann trat ich hinein. Meine Schritte hörten sich an wie Trommelschläge in der Finsternis, aber sie waren längst nicht so laut wie das Klopfen in meiner Brust.

Draußen tobte das Gewitter. Der Wind rüttelte an der Fassade des Museums, Regen peitschte gegen die Scheiben und in der Ferne hallte der Donner. Ich ließ meinen Blick über die Silhouetten der Ausstellungsobjekte schweifen. Keine Anzeichen eines Kampfs. Kein Blutgeruch. Nur die unzähligen Sarkophage und antiken Gegenstände in ihren Vitrinen.

Ich blieb stehen. Ein kurzer Blick auf das Display des Signalators bestätigte mir, dass der Besessene offenbar weiter dem Flur folgte. Der Raum war also sicher. Für den Moment zumindest.

Ich nahm einen tiefen Atemzug. Die Übelkeit war immer noch da, aber sie war nicht stärker geworden. Stattdessen fühlte sich meine Brust nun an, als hätte mir jemand ein enges Korsett angezogen. Ich war kaum in der Lage, richtig Luft zu holen. Ich wusste, dass ich es nur dem Adrenalin in meinen Adern zu verdanken hatte, dass ich überhaupt noch aufrecht stehen konnte.

»Yannik?«

Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. Jedes Wort war ein Risiko, aber noch viel riskanter wäre es gewesen, mich noch weiter in den Raum hineinzuwagen. Die Sinne von Besessenen unterschieden sich kaum von denen normaler Menschen. Der Dämon in ihnen hingegen war überaus empfindlich auf Wärme – und Bewegungen.

Anderswelt: Schattensuche (Band 1 der Anderswelt-Saga) [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt