Kapitel 1

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Yuri schreckte aus dem Bett hoch. Wirre Gedanken und Bilder ordneten sich langsam zu einer, immerhin fast vollständigen, Erinnerung, an den gestrigen Abend. Er machte sich eine mentale Notiz in Zukunft weniger zu trinken, besonders bei öffentlichen Anlässen. Zu leicht hätte etwas schief gehen, zu leicht hätte er die Kontrolle verlieren können. An das potentielle Bild in der Klatschpresse gar nicht zu denken. 'Eiskunstlauf Champion Yurio macht sich auf der Aftershow Party zum Affen' Vor dem Badezimmerspiegel, seine Morgenroutine absolvierend, fragte sich Yuri, warum er eigentlich gestern so viel getrunken hatte. Ungewöhnlich, den typisch gesunden Lebensstil eines Athleten außer Acht zu...
Er.
Blitzartig schoss ihm die Erinnerung durch den Kopf.
Sein Gesicht.
Da war dieser anderer Typ. Einer der Anderen Athleten, glaubte Yuri sich entfernt zu erinnern.
Ein Name.
Otabek.
Dieses Gesicht. Klare, ernste Gesichtszüge. Stoisch, aber etwas wildes, ungezähmtes, war da hinter. Wundervoll dunkle Augen, eine Kinnpartie, wie mit einem Lineal gezeichnet. Alles an ihm strahlte eine würdevolle Kompetenz aus.Jede Bewegung voller Kraft und Energie, selbstsicher und ruhig. Seine breiten Schultern und kräftigen Arme, luden gerade zu ein, sich einfach fallen und auffangen zu lassen. Noch nie hatte Yuri ein einzelner Blick so aus der Fassung gebracht. Während sich die Erinnerung von Otabeks Gesicht tief in sein Gehirn brannte, wurde Yuri plötzlich bewusst, dass er schon eine ganze Weile wie erstarrt vor dem Badezimmerspiegel ins leere starrte. Mit einer rauen Geste, wischte er die Erinnerung zur Seite. Warum brachte dieser Typ in so sehr aus der Fassung? Mit der Selbstkontrolle kam auch sein Stolz zurück. Ein hübsches Gesicht, na und? Davon gab es tausende. Kein Grund nervös zu werden. Konzentriere dich auf das nächste Training. Alles war fertig, der Tag konnte beginnen.
Kurz bevor Yuri das Hotelzimmer in Richtung Frühstücksbuffet verließ, fiel sein Blick zurück auf sein Bett und für eine Millisekunde schoss ihm noch mal Otabeks Gesicht durch den Kopf. Und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass das Bett eigentlich für zwei Personen gedacht war...

Aber solche Gedanken waren eines Yuri Plisetskys unwürdig. Energisch drehte er sich um, schloss die Tür hinter sich, und atmete tief durch.

Langsam öffnete Otabek die Augen. Für eine Weile genoss er die Harmonie des noch jungen Tages – Vögel zwitscherten vor dem Fenster, und ein paar einsame Sonnenstrahlen drangen durch das geschlossene Rollo und wanderten die Bettdecke entlang. Er ließ die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren, trennte innerlich wichtiges von trivialem. Die Intensität des Wettbewerbs. Das Rauschen des Publikums. Er hatte nicht wirklich erwartet einen der besseren Plätze zu belegen, dafür war die Konkurrenz in diesem Jahr einfach viel zu stark. Unter anderem waren Yuuri Katsuki und Yuri Plisetsky angetreten. Plisetsky hatte wie erwartet den ersten Platz errungen. Die Aftershowparty war ebenfalls, sagen wir mal, einmalig verlaufen. Bei dem Gedanken daran konnte Otabek nicht verhindern, dass sich ein breites Grinsen über seine sonst so regungslosen, geradezu in Stein gemeißelten Gesichtszüge ausbreitete. Mit eine einzigen fließenden Bewegung richtete sich Otabek im Bett auf. Die Sonnenstrahlen, die vorher die Bettdecke gewärmt hatten, glitten nun über seinen perfekt geformten, gestählten Oberkörper. Die Feier. Selten hatte er erlebt, dass die teilnehmenden Athleten so viel Alkohol konsumierten. Besonders Yuri Plisetzky hatte es sich anscheinend an diesem Abend zur Aufgabe gemacht, sämtliche Erinnerungen an den vergangenen Wettbewerb auszulöschen. Otabek hatte bis dato eher spärlich  Kontakt mit ihm gehabt, von einer eher zufällig entstandenen Rettungsaktion vor ein paar von Yuris anhänglicheren Fans mal abgesehen. Das meiste wusste er von Erzählungen dritter oder der Presse. Yurio, Russlands Fee, das störrische Wunderkind.

IchOtabek hatte an dem Abend nur wenig getrunken, und so viel ihm schon nach kurzer Zeit auf, dass er immer wieder von Yuri beobachtet wurde. Zuerst hatte Otabek noch grüßend zurück gewinkt, aber je weiter der Abend fortschritt, desto mehr fühlte er sich mit Blicken geradezu durchbohrt, was ihm schnell unangenehm wurde.   Gegen Ende der Feier fand er Yuri in einer der Sitzecken wieder – mehr liegend als sitzend, wohlgemerkt, etwas unverständliches vor sich hinmurmelnd.“Noch einmal herzlichen Glückwunsch zur Goldmedaille. Ich hoffe du genießt die Feier“, versuchte Otabek ein Gespräch in Gang zu bringen. „Tch!“, machte Yuri. „Ah, der Emporkömmling aus Kasachstan! Hübsches Gesicht hast da. Nicht dass mich das beeindruckt. Aber hübsch!“ Seine Worte waren vor lallen kaum zu verstehen. „Danke für das Kompliment, sofern es eins war?“, entgegnete Otabek amüsiert. „Ich meins ernst!“Lallte es zurück. „Hat mich total mitgerissen, und das passiert mir >hicks< nun wirklich nicht häufig. Hey sag mal, was machst du eigentlich in meinem Zimmer?“ „Leider sind wir nicht in deinem Zimmer, ich fürchte wir sind immer noch auf der Party.“ - „Oh. Dann muss ich aber jetzt los. Wo war ich nochmal...?“ Mehr brachte Yuri nicht heraus, bevor sein Kopf nach hinten sank und er dem Alkoholrausch zum Opfer fiel. Seufzend schaute Otabek auf den bewusstlosen Yuri herunter. Wenn er ganz ehrlich war, sah er mit seinen wilden blonden Haaren und in alle Richtungen ausgestreckten Gliedmaßen beinahe niedlich aus. Der Schlüssel den Yuri bei sich trug, verriet Otabek die Zimmernummer. Der Weg war nicht weit, und Yuris zierlicher, schlanker Körper war leicht zu tragen. Im Zimmer angekommen, ließ Otabek ihn sanft auf sein Bett gleiten. „Dankeschön.“, murmelte Yuri, und noch bevor Otabek irgendetwas anderes tun konnte, schlang Yuri die Arme um seinen Hals, drängte sich mit seinem Oberkörper ganz nah an ihn und küsste ihn. Lang und leidenschaftlich. Otabek brauchte ein paar Sekunden um zu verarbeiten, was da grade geschah. Sein erster Instinkt war zurückzuweichen, aber zu seiner eigenen Überraschung ließ er es geschehen. Erst als Yuris Hände instinktiv begannen, Otabeks Jacke dem Weg zu zerren und sein Körper zu erkunden, löste er sich behutsam von ihm. „Ich gehe jetzt besser.“ Sagte er sanft. Yuri derweil war mit dem Oberkörper wieder auf das Bett zurückgesunken, die Augen weiterhin geschlossen. „Das war... interessant. Und du riechst soooo gut...“, murmelte er noch, bevor ihn der Schlaf endgültig umfing.

„Definitiv interessant.“ murmelte Otabek, während er vollends aus seinem Bett aufstand, um sich für das bevorstehende Morgenbuffet bereitzumachen. Und schon zum zweiten Mal an diesem Morgen stahl sich ein leichtes Grinsen auf sein Gesicht.

Noch auf den letzten Metern zum Buffet, drang ihm eine störrische, nur all zu gut bekannte Stimme ins Ohr. Sich umdrehend sah er Yuri am Buffet stehend, sein Trainer Yakov direkt neben ihm. Das Gespräch der Beiden schien sich dem Ende zu zuneigen. Unüberhörbar knurrte Yuri Yakov an: „Das geht dich einen Scheißdreck an. Lass mich zufrieden.“ Mit den Schultern zuckend, verschwand sein Trainer in der Menge der frühstückenden Gäste. Otabek stellte sich neben den Kleineren, ein sarkastisches Schmunzeln auf dem Gesicht. Beim Anblick Otabeks zuckte Yuri sichtlich zusammen und schnaubte genervt. „Hey Yuri, wie geht es dir heute morgen?“ „Bestens.“, antwortete Yuri halbherzig, seine langen, blonden Haare, sein Gesicht versteckend. Otabeks Schmunzeln wurde mit jeder Sekunde ausgeprägter: „Wie hat dir deine Siegesfeier gefallen?“ „Tch... War okay, nichts Besonderes.“, zischelte Yuri mit zusammengepressten Zähnen zurück. „Wann bist du denn nach Hause gegangen?“ Sofort merkte man ihm seine steigende Unsicherheit und Anspannung an. Alles was er heraus brachte war ein nervöses: „Huh?“ Otabek verlor vollends die Kontrolle über seine Gesichtszüge, ein breites Grinsen zierte seine Lippen. „Weiß nicht genau.“, nuschelte Yuri einsilbig. „Lass mich raten“, hackte Otabek nach, „Wie du nachhause gekommen bist, weißt du ebenfalls nicht. Na ja irgendein Gentleman wird dich schon sicher nachhause gebracht haben...“ „Muss los, hab nachher noch Training.“, unterbrach Yuri ihn nervös, griff sein Teller und hastete in Richtung Tische. Zufrieden grinsend, blickte Otabek ihm nach und konnte nicht verhindern, dass er sich kurz im Anblick von Yuris Hintern verlor.

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