Ich bin zerrissen.

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Am nächsten Morgen war mir sehr kalt. Ich tastete nach der Bettdecke, fand sie aber nicht. Also öffnete ich meine Augen und stellte erstaunt fest, dass ich sie im Schlaf weggestrampelt haben musste. Intuitiv wanderte mein Blick zu seiner Seite und ich erstarrte.

Sie war leer.

Er ist nur auf die Toilette gegangen, versuchte ich mich zu beruhigen. Oder etwas trinken, in die Küche. Ich schaute auf den kleinen weißen Wecker, der auf meinem Nachttisch vor sich hin tickte. Halb neun. Vielleicht hat er ja ein schlechtes Gewissen, weil er sich gestern Abend so abweisend benommen hat? Und jetzt macht er mir anstelle des Abendessens gestern ein leckeres Frühstück?

Dann würde das Babydoll möglicherweise ja doch noch zum Einsatz kommen. Bei diesem Gedanken erschauderte ich. Er war ein großartiger Liebhaber, der beste, den ich je hatte. Und zu alledem ein guter Mensch, meine große Liebe.

Wohlig lächelnd stand ich auf und tapste auf nackten Sohlen leise in die Küche, um ihn zu überraschen. Dabei strich ich mir geistesabwesend über den Bauch. Es war ein Schock gewesen, ein ganz gewaltiger sogar, aber die Vorstellung, dass ein kleiner Mensch in mir heranwuchs, erfüllte mich mit einem Gefühl, das ich nie zuvor empfunden hatte. Es war ein gutes Gefühl.

»Darling?«, rief ich munter, als ich die Küche betrat.

Ich erhielt keine Antwort. Er war nicht in der Küche, weder am Herd noch sonst irgendwo. Alles war noch genauso wie gestern vor dem Schlafengehen. Ich ignorierte das Ziehen in meinem Magen und verließ den Raum, um ins Badezimmer zu gehen. Auch dort war niemand. Ich knipste das Licht an und stellte erschrocken fest, dass ich noch nicht einmal sein Rasierwasser riechen konnte. Und das benutzte er jeden Morgen. Irgendetwas stimmt nicht.

Quatsch, sagte ich mir im nächsten Moment. Er ist sicher nur zum Bäcker oder eine rauchen.

Aber ich wusste, dass er schon seit einem halben Jahr an keiner Zigarette mehr gezogen hatte.

Rückblickend betrachtet habe ich es genau gewusst. Ich habe es schon nach dem Aufwachen gewusst. Ich war bloß gut darin, es vor mir selbst zu verheimlichen.

»Darling?«, wiederholte ich lauter, panischer. Meine Stimme gehörte mir nicht. Sie schien von ganz woanders zu kommen. Ich begann zu zittern.

Mit weichen Knien stakste ich zum Sofa, um mich hinzusetzen. Die Lichterketten, die ich tags zuvor um den Weihnachtsbaum geschlungen hatte, leuchteten nicht mehr. Jemand musste sie ausgeschaltet haben. Ich war es nicht gewesen.

Warum hat er das getan?

Ich blickte aus dem Fenster und sah, dass es schneite.

Dann fiel mein Blick auf die Fensterbank, auf der ich meine vier Orchideen hielt. In einem der Blumentöpfe steckte ein kleiner, weißer Zettel, einer von der Sorte, die ich zum Einkäufe aufschreiben benutzte. Meine Kehle wurde eng.

»Darling?« Nur noch ein Flüstern. Mein Mund fühlte sich trocken an.

Dennoch stand ich auf, wankte unsicher zum Fenster und nahm den Zettel mit spitzen Fingern an mich. Er schien mich zu verbrennen. Langsam, als könnte ich dadurch den Inhalt verändern, faltete ich ihn auseinander.

Sidney, ich bin bei den Nachbarn, sie baten mich darum, ihnen bei etwas zu helfen.

Nein, das stand da nicht, nicht einmal ansatzweise. Ich hatte es mir bloß gewünscht.

Es tut mir leid. Du wirst mich nicht wiedersehen.

Das war es, was auf dem Zettel geschrieben stand. Nichts weiter. Ich begreife noch immer nicht, dass ich ihm nicht einmal eine Erklärung wert gewesen war. Nur ein kurzer nichtssagender Satz, der sich unwiderruflich in meinen Verstand brennend würde.

»Wie meinst du das?«, fragte er nun. Seine Stimme zitterte leicht. Meine Behauptung hatte ihn aus dem Konzept gebracht.

Dabei log ich nicht einmal. Und das würde ich ihm jetzt endlich erzählen. Es mir von der Seele reden. Auch wenn ich bezweifelte, dass mir das auf irgendeine Weise helfen würde. Er musste einfach wissen, was er unbeabsichtigt getan hatte.

»Nachdem ich deine Nachricht gefunden habe«, begann ich leise und spielte mit einer meiner Haarsträhnen, »bin ich in meine Stiefel geschlüpft und wollte dir nachlaufen. Dumm, nicht wahr? Du hättest ja schon seit Stunden weg sein können, das konnte ich nicht wissen. Und trotzdem hegte ich die irrationale Hoffnung, du würdest doch nur vor dem Haus stehen und rauchen. Nie war ich so verzweifelt gewesen, wie in dem Moment, in dem ich begriff, dass du mich verlassen hast.«

In der Wohnung nebenan - die Wände meiner schäbigen Bleibe waren nicht besonders dick - schaltete jemand das an. George Michaels Stimme drang gedämpft in mein Wohnzimmer. Last Christmas, dachte ich zynisch, ausgerechnet.

»Und dann?« Sein Interesse war geweckt. In seinen Augen sah ich Furcht, vermutlich vor dem, was ich ihm gleich erzählen würde. Aber wissen wollte er es dennoch. Das sprach für ihn. Wenn auch nichts anderes.

Ich fuhr fort, während mein Herz lautstark gegen meine Brust schlug. Ich schluckte.
»Jemand muss mit nassen Schuhen die Treppe hochgestiegen sein, kurz bevor ich die Wohnung verließ, um dich zu suchen.« Ein scharfer Schmerz durchzuckte mich, als ich an diesen Augenblick zurückdachte.
»Jedenfalls«, flüsterte ich schwach, »rutschte ich aus und stürzte die Treppe hinunter.«

Ich hörte, wie er schockiert die Luft einsog und spürte seinen starren Blick auf meinem Körper. Er konnte absolut nicht fassen, was ich da erzählte und wollte nicht glauben, worauf das hinaus lief. Ich kannte ihn gut genug, um das zu wissen.

»Kurzzeitig verlor ich mein Bewusstsein. Und als ich aufwachte, lag ich in einer recht unbequemen Haltung auf dem kalten Boden des Treppenhauses. Der Schmerz war überwältigend, es hat sich angefühlt, als würde ich zerrissen.« Tränen traten mir in die Augen, als ich das Ganze noch einmal durchlebte. »Ich habe geblutet. Meine Pyjamahose war voller Blut. Ob auf dem Boden auch welches war, weiß ich nicht. Wenn, dann hat es jemand weggewischt. Mit letzter Kraft, ich war so unglaublich erschüttert, schleppte ich mich zurück in die Wohnung, zog mich aus und setzte mich unter die Dusche bis es vorbei war. Dann bin ich mit meinem Auto zur Frauenklinik gefahren.« Damit beendete ich meinen Monolog und schluchzte auf, nicht länger dazu im Stande, den Schmerz zurückzuhalten. »Du bist der Grund dafür, dass ich unser Kind verloren habe.«

-

Wärt ihr in Sidneys Situation? Würdet ihr ihn beschuldigen? Sein Fortgehen war es schließlich, das dazu führte, dass sie stürzte und dabei ihr Baby verlor.
Ich finde solche Diskussionen ziemlich interessant, also gebt gerne euren Senf dazu.
Wie gefällt euch die Story?
Ich weiß, es ist mal was anderes, aber vielleicht ist sie ja trotzdem oder gerade deswegen ansprechend. Auch hier bin ich sehr gespannt auf eure Antworten.
Habt ein schönes Wochenende!

A F T E R G L O WWo Geschichten leben. Entdecke jetzt