Die schreiende Frau

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Normalerweise kann ich Erscheinungen nichts abgewinnen. Also so gar nichts. Ich teile weder Finns Faszination von mythologischen Figuren, noch seine Liebe zu Bibliotheken. Und obwohl selbst Ben sich manchmal von ihm breitschlagen ließ und heimlich Wache stand, wenn Finn bei einem Auftrag lesen wollte, war für mich noch immer nur eine versiegelte Erscheinung eine gute Erscheinung. Das zumindest war meine Regel für die ich bisher nur eine Ausnahme gemacht hatte.

Ohne, dass ich mit den Jungs darüber gesprochen hatte, rannten meine Gedanken schon seit Wochen zu einer Erscheinung zurück, auf die ich in der alten Universitätsbibliothek gestoßen war. Sie war sonderbar anders gewesen und egal wie oft ich mir einredete, dass es Wahnsinn war, mich in die endlosen Gänge dieser Bibliothek zu wünschen, konnte ich es doch nicht leugnen, dass etwas Dunkles in ihr mich unwiderstehlich anzog.

Aber das hier war anders.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich aufrichtig froh darüber, dass zwei Erscheinungen neben mir ins Leben geflattert waren: Am Fuß der Treppe stand der Geist der zukünftigen Weihnachten. Aber trotz seiner modernden Rippen, seiner Knochenhände und seinem pechschwarzem, röchelnden Atem war er nicht das Schlimmste, was ich gerade sah.

Finn war schnell aufgesprungen und half mir hoch. Neben mir kamen die Einbrecher fluchend auf die Beine, aber weder Finn noch ich hatten Augen für sie.

Hinter ihnen hockte eine Frau auf dem Boden. Ihr großer, zerbrechlicher Körper war in ein smaragdgrünes Kleid gehüllt über dem sie einen grauen Umhang trug. Strähnig, silberblondes Haar strömte wie ein Wasserfall zu beiden Seiten ihres Gesichts über ihre Schultern. Im Schein von Finns Taschenlampe waren ihre Augen seltsam rot, als hätte sie tagelang durchgeweint. Sie war fast schön, wäre da nicht ihr knochenerschütternder Schrei, der in meinem ganzen Körper vibrierte und ihr Gesicht, das so abgemagert war, dass uns ein Skelett entgegenzustarren schien.

Ich blinzelte mehrmals verwirrt. Keine Ahnung, warum, aber in all den Jahren, in denen ich zusammen mit den Jungs durch Bibliotheken gerannt war, hatte mir noch nie eine Erscheinung solche Angst gemacht. Es war, als wäre sämtliches Blut in meinem Körper durch Quecksilber ersetzt worden und eine Todeskälte hatte mich ergriffen.

"Finn?"

Meine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern und ich hatte keine Chance, über den Schrei der Frau gehört zu werden. Ohne groß darüber nachzudenken, ergriff ich Finns Hand, die sich seltsam leblos anfühlte.

Warum ich trotzdem froh war die Erscheinungen zu sehen? Nun ja, Finn und ich hatten Angst vor der hockenden Frau, aber das war nichts im Vergleich zu den Einbrechern. Sie hatten offensichtlich keine Ahnung gehabt, wen oder was sie ins Haus geschleppt hatten und ich hatte noch nie jemanden so schnell in die Dunkelheit rennen sehen, wie die Männer und die Frau. Wenn der Schrei der Erscheinung mir nicht so in den Körper gedrungen wäre, hätte ich es fast witzig gefunden.

Immerhin hatten wir damit ein Problem weniger. Ich zog Finn zu mir herunter und schrie ihm über dem Kreischen der Frau hinweg ins Ohr:

"Du suchst das Weihnachtsbuch. Ich halt dir den Rücken frei."

Finn nickte, drückte meine Hand zum Abschied und war fast augenblicklich verschwunden. Ich schüttelte den Kopf, um die Schreie aus meinen Ohren zu verdrängen, schaltete meine eigene Taschenlampe an und warf mein Messer auf den Geist der zukünftigen Weihnacht. Ich traf ihn genau zwischen den Rippen und er verschwand. Ohne zu zögern sprang ich zu der Metallbox auf dem Boden. Das Buch der schreienden Frau lag noch immer darin. Ich musste nichts weiter tun, als es wieder zu versiegeln.

Erleichtert spürte ich das kalte Metall in meinen Händen und sah, dass ein irisches Sagenbuch in der Box lag. Ich zögerte. Etwas war komisch. Und dann wurde es mir bewusst. Der Schrei. Er war verstummt. Noch bevor ich auch nur Aufsehen konnte, schlossen sich ein paar zerbrechlich wirkende, aber erstaunlich starke Finger um meinen Arm. Ich schrie entsetzt auf, die Frau war auf mich zu gekrochen und hockte nur wenige Millimeter vor mir.

Die Villa am SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt