Dreamcatcher

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Schreie. Laute, Sinneszerfetzende Schreie. Ich spüre meine Füße nicht mehr, und doch weiß ich, dass ich nicht aufhören muss zu laufen. Ich darf nicht. Dort, Licht. Die Erleichterung, die sich in mir breit macht, bringt Wärme mit sich. Hinter mir sind Stimmen, die nach mir rufen. Ich solle stehen bleiben, sagen sie. Ich kann sie nicht länger ertragen. Als ich endlich das Licht erreiche, schmeiße ich mich hinein. Wärme umgibt mich, und obwohl meine Augen geschlossen sind, blendet mich das helle Licht. Dann wird alles schwarz.

Nervös zupfe ich an meinem grauen T-Shirt herum, denn irgendwas muss mich beschäftigen, während ich versuche nicht an den Traum zu denken. Ich sitze auf einer niedrigen Betonmauer, die voll und ganz mit Graffiti besprüht ist. Über mir ziehen sich schwarze Wolken auf, die nichts Gutes vorhaben. Ich hole mein kleines, veraltetes Handy heraus und blicke auf das Display. Nichts. Keine einzige Nachricht. Und dabei hätte Cass schon längst kommen sollen. Na klar, sie und ihr exzellentes Zeitgefühl.Tss. Ich seufze und schlinge meine Arme um meinem Körper. Die Kälte beißt sich in meine Knochen und hinterlässt kalten Schmerz. Wie immer trage ich eine enge Jeans und ein graues T-shirt mit einem Cremefarbenem Cardigan. Ungeduldig fange ich an, mit den Füßen auf dem Schwarzen Beton zu tippen. Ich schaue zum Himmel. Die dunklen Wolken scheinen, als würden sie jeden Moment plazten und sich in kleine, feine Tröpfchen auflösen würden. Ich schließe kurz meine Augen, und im nächsten Moment spüre ich einen kalten Tropfen auf meine blasse Haut. Zum Glück biegt gerade Cass' rosaroter Minivan um die Ecke und haltet genau in der Mitte des leeren Parkplatzes. ¨Weißt du, manche Menschen mögen es pünktlich!¨ sage ich beim Einsteigen und schlage so fest wie möglich die Wagentür hinter mir zu. Cass kichert und legt ihre fein manikürten Hände mit den knallpinken Nägeln aufs Lenkrad. Ich weiß, tut mir Leid. Wie wars diesmal beim Treffen?¨ fragt sie stattdessen. ¨Wie immer. Lahm und total nutzlos! Warum muss ich denn überhaupt dorthin?¨ Ich verschränke die Hände vor die Brust. ¨ Fang bitte nicht wieder damit an. Ich dachte, wir hätten diese Diskussionen schon hinter uns. Es ist zu deinem Besten, Schätzchen. Stell dich doch nicht so an.¨ Sie rollt mit den Augen und lehnt sich nach vorn, um ihr Make-Up im Spiegel zu kontrollieren. Dabei gibt sie nicht mehr Acht auf die Straße, und ein zweites Auto kann uns gerade noch ausweichen. ¨Cass, die Straße!¨ rufe ich entsetzt. Cass dagegen wendet Seelenruhig ihr Blick vom Spiegel ab und blickt gelangweilt wieder auf die Straße. ¨Was habt ihr heute so getan?¨ Cass blickt kurz zu mir rüber. ¨Warum muss ich eigentlich mit dir fahren...¨ murmle ich und schildere ihr dann alles was heute geschehen war. Wir sind reingekommen und ich habe mich wie üblich neben Hay gesetzt. Dann hat Paige, unsere ¨Betreuerin¨ uns einer nach dem anderen aufgerufen, um die Kontrollen durchzuführen. Die bestanden darin, zu kontrollieren, wie es mit unseren ¨Problemen¨  vorangeht. Alle in der Gruppe haben irgendwas eigenartiges an sich, das scheinbar dringend wöchentlich kontrolliert werden müssen. Fern, ein Mädchen aus unserer Gruppe leidet unter Amnesie; jedenfalls behauptet sie das und Drew leidet unter Dauerängsten. Hailey, kurz Hay, die einzige, bei der ich mir sicher bin, dass sie wenigstens ein bisschen normal ist, leidet unter dauerhaften Zerstreuung. Und ich, ich bin die die eigentlich auf gar keinen Fall in das Gemisch von Jugendlichen reinpasst. Außer wenn Zurückhaltung zu Problemen zählt, die man unbedingt lösen muss. Das einzige, das meine Mutter dazu gebracht hat, mich zur Therapiegruppe zu schicken sind meine Alpträume. Sie bezeichnte sie jedenfalls so. Mir kommen sie aber... ich weiß nicht... Real vor. Tatsache ist, dass ich die nicht loswerde. Außerdem soll die Gruppe mir etwas soziales Leben verschaffen, sagt Mum. Ich war nie der Mensch der offen auf andere zuläuft und immer im Mittelpunkt stehen will, sondern ich habe mich immer im Hintergrund gehalten, und wenn jemand auf mich zugegangen ist, habe ich ihn immer zurückgewiesen. Auch jetzt sind die einzigen Menschen, mit denen ich wirklich was zu tun habe Hay, und die sehe ich einmal die Woche, Mum und Cass. Sie ist eine Studentin und hat vor ein paar Jahren dringend eine Wohnung gesucht. Wir hatten ein Zimmer frei in unserer Wohnung und deshalb hat Mum ihr es angeboten. Für mich ist sie wie eine große Schwester, und doch nicht ganz. Ich denke, wir sind einfach zu gegensätzlich. ¨ Achja, sind denn süße Jungs in der Gruppe?¨ reißt mich Cass aus meinen Gedanken und zwinkert mir zu. ¨Und wennschon, eine Therapiegruppe würde der letzte Ort sein, wo ich nach einem Freund suche würde.¨ Ich schaue sie grummelig an. Fällt ihr heute echt nicht ein besseres Thema ein, um uns die Heimfahrt zu vertreiben. ¨Was ist mit Samuel?¨ Cass schaut mich an und ich hoffe innerlich, dass sie sich auf die Autobahn konzentrieren würde. Bitte. Als könne sie Gedanken lesen dreht sie den Kopf wieder Richtung Fahrweg zu. Ich schüttle den Kopf und kehre zu ihrer Frage zurück. Bevor mir auffält, dass sie total dumm ist, habe ich schon geantwortet. ¨Was soll den mit ihm sein? ich bekomme ihn nie zu Gesicht.¨ Das ist nicht gelogen. Scheinbar ist Samuel ein ¨Spezialfall¨. Ich sehe ihn nie, außer wenn wir uns am Anfang der Stunde alle Zusammensetzen, um über unsere Fortschritte zu berichten. ¨ Aber du möchtest es, oder?¨ fragt Cass und schmunzelt. ¨Was? Warum sollte ich?¨ antworte ich, wahrscheinlich etwas zu schrill, denn Cass kichert, und hört auch nicht mehr auf. Zum Glück biegt sie in dem Moment in unsere Straße, sodass unsere Konverstaion für heute beendet ist.

Als wir dann vor unserer Haustür stehen und klingeln, kommt Mum aus dem Garten, mit einem strahlenden Gesicht und einer Gießkanne in der Hand. ¨Wie wars bei-¨ Ich unterbreche sie lustlos. ¨Gut. Alles Perfekt, ich habe wieder meine Pillen bekommen.¨ Aber ich esse die Pillen eh nicht, sondern schmeiße sie alle in die Mülltonne. Ich bin kein Experiment, will ich noch hinzufügen. Aber dabei hätte ich mich verraten. Ich soll doch brav meine Pillen nehmen. Ich streiche mir widerspänstig meine Schokoladenbraunen Haare zurück und fixiere Mum. Diese lächelt mir etwas unsicher zu und antwortet mir so ruhig wie möglich. ¨Keinen Grund, so zu reagieren, Mayzlie. Die Ruhe liegt in der Geduld, Liebes.¨ Zitiert sie von irgendeinem Dichter oder Philosoph. ¨May, Mum. Ich heiße May.¨ Erwidere ich scharf. ¨ Und ich dachte, Ich wäre deutlich genug gewesen, als ich dir deinen Namen gegeben habe, dass er Mayzlie lautet.¨ Sie verzieht den Mund, um dann anzufangen was zu summen und in den Garten zurückzugehen. Cass hat inzwischen schon die Tür aufgesperrt, sodass ich sie nur mir dem Fuß einen Spalt aufmachen muss um in unser kleines, viktorianisches Haus zu gelangen. So sehr wir auch versucht hatten, das Haus moderner zu gestalten, es war immer noch alt und staubig. Ich sehne mich danach, mich auf die Couch fallen zu lassen und einen Moment die Augen zuzumachen, als das Telefon läutet. Ich stöhne und bin gerade dabei, den Höhrer abzunehmen, doch Cass ist schneller. Mit einer verführerischen und  süßen Stimme zwitschert sie ¨Hallo¨ in den Hörer und schneidet dann eine Grimasse. ¨Was willst du, Joel? Ja. Nein. Was? Ja klar und ich bin der Weihnachtsmann. Ruf zurück wenn du zum Normalen gekehrt bist. Wa-¨ sie unterbricht sich und schaut zu mir. Ich stehe immernoch vor dem Telefon. Wer ist das bloß? Wer is Joel? Cass dreht sich um und wispert etwas in den Hörer, dass ich genau ziemlich hören kann. ¨Sie ist noch nicht bereit! Nein Joel! Joel? Scheiße.¨ Cass dreht sich zu mir um und zeigt mir ihre blendenten weiße Zähne. Dann legt sie den Höhrer sanft auf die Telefongabel und tretet ein Schritt nach vorne. Sie schaut aus, als wolle sie mich umarmen. Jedoch scheint sie es sich überlegt zu haben, denn sie dreht sich um und läuft geradeaus in die kleine Bibliothek, in der sie ziemlich viel Zeit verbringt. Ich beschließe, dass es eh nichts bringen würde, wenn ich ihr nachlaufen würde, also steige ich die Treppen hinauf zu meinem Zimmer. Dieses besteht aus vier weißen Wänden, zwei nachtblaue Sessel, einige Bücherregale mit alten Büchern und ein Einzelbett, dass in der hintersten Ecke steht. Auf den Boden liegt ein blutroter Teppich, der mit indischen Motiven in tausen Farben gesäumt ist. Er stammt aus eine von Mums Reisen nach Indien. Eigentlich sollte das Zimmer kalt, leer und farblos ausschauen. Wäre nicht der Teppich und lägen nicht mindestens zehn Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch, unter dem Bett, auf dem Boden. Sie säumen die Sessel und lassen alles viel entspannter wirken. Das ist meine kleine Bibliothek. Ich streiche über meine Bücher auf dem kleinen Schreibtisch. Meine Lieblinge. Jane Eyre, Oliver Twist, Alice in Wonderland und zwei Dutzend Exemplare von Edgar Allan Poe und Oscar Wilde. Weitere Bücher von den Schwestern Bronté, Shakespeare und den Gebrüdern Grimm. Das sind meine Schätze an kalten, grauen Tagen oder wenn ich alleine sein will. Ich seufze. Draußen stürmt es jetzt wie verrückt und die schweren Tropfen prasseln ohne Ende auf die Fensterscheibe. Zum hundertsten Mal schnappe ich mir Der kleine Prinz und setze mich auf meinem Bett. Als der kleine Prinz zum dritten Planeten kommt, der des Säufers, werden meine Lider schwer. Ich schlafe mit dem Buch in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen ein.

Ein Blitz reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Also stehe ich auf, reibe mir die Augen und will in die Küche hinausgehen, als ich ein Klopfen an der Haustür höre. Sofort höre ich Cass fluchen und die Tür aufmachen. Ihr Zimmer ist im Erdgeschoss, also sieht sie mich nicht, als ich auf den Gang hinaustrete. Ich höre ich Stimmen und kehre flink in mein Zimmer zurück, lasse aber einen Spalt offen, um lauschen zu können. ¨Joel!¨ flüstert Cass. Joel? Der hat doch heute Abend angerufen, oder? ¨ Ich habe dir ausdrücklich gesagt du sollst nicht  kommen. Jetzt sag mir mal was du daran nicht verstanden hast, hmm¨ sagt Cass herausfordernd. Ich habe diesen Ton oft an ihr gehört. Eine Jungenstimme antwortet ihr. Ich schätze ihn nicht mehr als 19. ¨Cass, sieh es endlich ein. Du kannst es nicht ewig verbergen. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren!¨ ¨Shh¨ zischt Cass. ¨Warum denkst du, dass ich hierhergekommen bin? Ich habe dieser Familie immer etwas vorgetäuscht, nur um auf den Moment zu warten!¨ Vorgetäuscht? Uns? Die Stimmen werden leiser, wahrscheinlich sind Cass und dieser Joel in ihr Zimmer gegangen. Ich schließe jetzt die Tür ganz und lehne mich dagegen. Was hat das alles zu bedeuten... Ich bin an der Grenze rauszugehen und sie zu fragen, doch das wäre wohl nicht eine so gute Idee. Aber ich nehme mir vor, Cass morgen zur Sprache zu stellen. Blitzschnell, wie meine Müdigkeit verschwunden war, kommt sie wieder zurück, und ich bin gezwungen, mich aufs Bett zu legen. In weniger als einer Minute bin ich auch schon eingeschlafen. Meine Gedanken werden zu Träumen, nein, zu Alpträumen, doch ich kann nichts dagegen machen. Man kann sie nicht auslöschen.

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