Prolog : Unten im Meer

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Könnte Mal die Situation mit nur einem Wort beschreiben, wäre es Chaos. Sie wusste nicht einmal, wie Carlos im Meer gelandet war. Sie wusste auch nicht, wo Evie gerade war, obwohl ihre beste Freundin bis vor wenigen Sekunden noch neben ihr gestanden hatte. Das Einzige, was sie sicher wusste, war, dass Carlos ertrank, und dass es ihre Schuld war . Alles war ihre Schuld. Sie hatte alles ruiniert. Sie hatte alles wissen müssen, sie hatte einfach keine Ruhe gegeben. Und nun war alles vorbei.

Das Meer war grausam. Es war ungebändigt und wild und so weit vom mehr oder weniger sicheren Hafen entfernt würde Carlos, der kein sonderlich guter Schwimmer war, auf keinen Fall überleben. Mal war sich dessen bewusst, und obwohl sie etwas tun wollte, obwohl sie ihn retten wollte, konnte sie sich nicht bewegen. Sie war wie erstarrt. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte sie, dass Carlos nicht mehr alleine war. Uma. Uma war ebenfalls im Meer. Ob das nun gut oder schlecht war, konnte Mal momentan nicht einschätzen. Erst, als sie erkannte, was ihre langjährige Rivalin im Begriff war, zu tun, kam Bewegung in sie. Carlos würde heute nicht sterben, nicht durch Umas Hand, die seinen Kopf unter das Wasser drückte.

Mal rannte zum Wasser, sie rannte so schnell sie konnte und trotzdem hatte sie Angst, sie hatte solche Angst, wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Das bedrückende Gefühl in ihrem Magen wurde von Atemzug zu Atemzug schlimmer und als Mals Füße das Meer berührten, machte ihr die eisige Kälte, die durch ihre Kleidung drang, nichts aus. Ihre Gedanken rasten in ihrem Kopf, sie drehten sich immer wieder um die gleichen Namen. Carlos, Uma, Carlos, Uma, Carlos, Uma, Carlos, Uma. Harry.

Ein roter Blitz im tiefen Grau des Ozeans. Harry war schneller und Mal konnte nur hoffen, dass er auf ihrer Seite stand. Im Moment konnte sie nur zusehen. Sie war nicht schnell genug.

„Uma, hör auf!", hörte sie Harrys Stimme durch das Rauschen der Wellen schreien. Plötzlich verlor sie den Boden unter den Füßen. Sie war so tief im Meer, dass sie nicht mehr aufrecht stehen konnte. Doch das war egal. Sie musste Harry helfen. Sie musste Carlos retten.

„Uma, bitte, du musst das nicht tun. Wir müssen niemanden umbringen, lass ihn los", schrie Harry, seine Stimme weit entfernt und es überraschte Mal, dass sie ihn überhaupt hören konnte. Noch verblüffter war sie, als sie Umas Stimme vernahm, ihre leise, bedrohliche Stimme, die über das Meer fegte, als würde alles ihr gehören.

„Ich muss das nicht tun? Ich muss mich also nicht an ihnen rächen? Wir sind Außenseiter, Harry. Niemand nimmt uns Ernst und das ist alles Mals Schuld. Bist du nicht in ihrer kleinen Clique, bist du ein Nichts. Sie hat sogar das kleine, schwache, nichtsnutzige Hündchen Carlos aufgenommen. Inwiefern hat er den Platz an der Spitze mehr verdient, als wir. Ich sollte hier das Sagen haben! Und du, du hast kein Recht, mir zu sagen, was ich zu tun habe, so, wie du an der verdammten Hexe hängst. Gib es zu, du willst dem Hündchen doch nur helfen, weil du dann gut bei ihr dastehst. Vielleicht werdet ihr ja dann auch ein Paar, so, wie ihr es immer wolltet."

„Uma, nein! Ich mache das hier nicht für Mal, ich mache es für dich. Du wirst es dir niemals verzeihen, wenn du Carlos umbringst. Bitte, lass ihn los", versuchte Harry verzweifelt, auf seine beste Freundin einzureden.

„Bitte, ich liebe nicht Mal, ich liebe dich!"

Nach diesen Worten passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Uma ließ geschockt Carlos' Kopf los, eine Welle begrub sowohl Mal, als auch Harry unter einer kalten, unzerbrechlichen Wand aus Salzwasser und Jay und Evie tauchten am Strand auf.

„Carlos, nein!"

„Mal, wo bist du?"

„Ich komme, keine Angst, ich rette euch!"

„Kommt keinen Schritt näher, oder ich ertränke ihn!"

„Mal, Harry, bitte, wo seid ihr?"

„Carlos!"

Das Wasser machte Mal taub. Sie wusste nicht, was geschah. Was geschah, was geschah.

Es war ihre Schuld, alles ihre Schuld. Sie hörte auf, gegen das unbezwingbare Meer zu kämpfen und ließ sich einfach treiben. Alles war ihre Schuld. Die Konsequenzen ihrer Aktionen brachten gerade Menschen um. Sie brachte gerade Menschen um. Carlos und Harry, Jay und Evie. Es war alles ihre Schuld. Sie schloss die Augen und gab auf. Wäre doch alles nur ungewiss geblieben.

Jeder Mensch hat Geheimnisse. Große, kleine, wichtige, nichtige, gefährliche. Hätte sie die Geheimnisse doch nur Geheimnisse bleiben lassen.

Im Schatten des Ungewissenen #Wattys2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt