Der Anfang vom Ende

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"Hannah, ich weiß nicht wo ich anfangen soll. Ich glaube, ich kann darüber nicht sprechen", mir fällt es so schwer diese Worte zu sagen und dabei hatten sie gar keinen wirklichen Inhalt. Ich zittere am ganzen Körper und kann die roten Flecken, die ich immer bekomme, wenn ich gestresst bin, schon beinahe spüren. Ich ziehe mein Haargummi vom Handgelenk weg und lasse es gleich wieder zurück fletschen. Immer und immer wieder. Ich weiß nicht, was ich Hannah sagen soll. Ich habe seit mehr als fünf Jahren nicht über das gesprochen, was mich beschäftigt. Wie soll ich es dann jetzt schaffen? Ich weiß es nicht. Ich habe es verlernt, wenn ich es denn überhaupt mal konnte. Ich weiß nicht, wie ich das, was ich fühle in Worte packen soll. Mein ganzer Körper ist angespannt. Ich habe seit Tagen nicht mehr richtig gegessen. Und ich merke wie ihm langsam die Kraft ausgeht. Ich kann nicht sprechen. Also schaue ich verlegen nach unten und ziehe die langen Ärmel meines roten Pullovers langsam nach oben. Es fällt mir schwer. Meine Arme zittern.

Ich weiß, dass es ein Fehler war, Hannah zu sagen, dass etwas nicht ganz so läuft wie es soll. Und jetzt reite ich mich immer weiter in die Scheiße. Aber es gibt kein zurück mehr. Es gibt nur noch einen einzigen Ausweg. Doch das wird mein Geheimnis bleiben.

Mir schießen ungewollt die Tränen in die Augen. Wie oft habe ich in der letzten Zeit gesagt, dass mir einfach nur kalt ist und ich deswegen keine T-Shirts anziehe. Komisch, dass das nie jemandem aufgefallen ist. Es ist Winter, dass ist wohl mein Vorteil.

Ich bin so in meine Gedanken vertieft, dass ich gar nicht merke, wie Hannah meinen schlappen Körper längst in den Arm genommen hat. Auch ihr kommen die Tränen.

"Warum?", fragt sie mich aufgelöst.

Ja, das wüsste ich auch gerne. Ungewollt kommen längst verdrängte Erinnerungen in mir hoch. Mir wird schlecht.


"Wenn sie das einzige Mädchen ist, dann hat sie ja ein Einzelzimmer."

"Jungs, ihr wisst was das bedeutet, oder?"

"Ich bin der erste!"

"Okay, aber dann bin ich der zweite."

"Alter, wenn wir aus München zurück kommen, ist sie ein Schweizer Käse."

Die Jungs fangen an zu lachen. Sie machten nicht zum ersten Mal auf meine Kosten Witze. Eigentlich machten sie das in jeder Stunde. Sie haben nicht gemerkt, dass ich schon längst wieder im Physikraum war. Ich habe mehr gehört als ich hören wollte und wahrscheinlich auch mehr als ich sollte. Ich bin solche Sprüche von den Jungs aus meinem Physik-Leistungskurs zwar gewohnt, aber welches Mädchen hört schon gerne, dass Jungs sie einfach nur flachlegen wollen? Ich denke mal niemand oder?

Ich bin ihr Püppchen. Sie glauben, sie können mit mir alles machen, was sie wollen. Ich verstehe nicht, was sie zu dieser Annahme gebracht hat. Ich kann mir nicht zusammen reimen, warum sie so über mich denken. Ich meine, ich trage keine kurzen Kleider oder Röcke und erst recht keinen Ausschnitt. Was um Himmelswillen gibt ihnen den Anlass, so über mich zu denken oder zu sprechen. Es macht mich so sauer und gleichzeitig fühle ich mich so wertlos. Aber ich kann mich nicht dagegen wehren, ich kann mich nicht verteidigen.


"Hey, alles okay bei dir?", fragt Hannah und reißt mich aus meinen Erinnerungen.

Ich war so in sie versunken, dass ich ganz vergessen habe, dass ich bei Hannah auf der Couch sitze. Ich weiß, dass sie nicht mehr locker machen wird, bis ich ihr erzähle was los ist. Ich muss jetzt reden, es führt kein Weg mehr daran vorbei, so viel ist mir klar. Meine Wangen sind brühend heiß und ich zittere immer noch. Mein Körper kommt von diesem Trip nicht mehr runter. Ist ihm bewusst, dass er dadurch seine letzten Vorräte verbrennt? "Naja, also" fange ich an. Ich bekomme kaum ein Wort über die Lippen. Irgendetwas in meinem Körper wehrt sich mit aller Kraft. Irgendetwas sagt mir, dass es ein großer Fehler ist zu reden. Aber es gibt auch etwas in mir, dass sich danach sehnt, endlich nicht mehr alleine zu sein.

"Du weißt doch, dass ich das einzige Mädchen im Physik-Lk bin", meine Stimme zittert bei jedem einzelnem Wort. Das Schlucken fällt mir schwer, aber ich bleibe stark.

"Na klar, aber du kommst doch gut mit den Jungs klar. Die sind doch eigentlich alle voll nett", entgegnete Hannah.

Eigentlich, ja eigentlich sind sie nett. Ich kann Hannah keinen Vorwurf machen, woher soll sie auch wissen, was ich mir anhören durfte. Sie hatte sich mittlerweile die Tränen aus dem Gesicht gewischt, aber sie sieht dennoch mitgenommen aus. Es scheint auch für sie nicht einfach zu sein.

"Ja, meistens schon, aber, also...", versuche ich es wieder, aber ich bekomme keinen ganzen Satz über meine Lippen. Mein Blick ist starr auf meine abgekauten Fingernägel gerichtet.

"Jetzt sag schon, was los ist", Hannah wurde langsam ungeduldig.

Ich wäre es an ihrer Stelle auch. "Die behandeln mich wie ihr Barbie-Püppchen", jetzt sprudeln die Worte nur so aus mir raus, als hätten sie die Mauer, die ihnen den Weg nach draußen versperrt hatte, zerstört, "Wir fahren doch jetzt bald nach München und das einzige, an das die Jungs denken, ist in welcher Reihenfolge sie mich flachlegen."

Dass das nicht mein größtes Problem war, erzähle ich ihr nicht. Ich bin ehrlich, es war eines der kleinsten, aber es war ein Anfang. Es war der Anfang vom Ende.

Mixed Up MindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt