Unbekannte Energie

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Sana saß, wie jeden Tag der letzten fünf Jahre an dem Bett ihres Onkels und las aus einem abgegriffenem Buch mit ledernem Umschlag vor. Die Schrift war nur schwer zu entziffern, da die Tinte, immer dann, wenn der Autor seine Gedanken nicht schnell genug zu Papier bringen konnte, Schlieren gezogen hatte. Trotzdem stockte ihre Stimme nicht. Vermutlich hätte sie nicht einmal das Buch gebraucht, um seine Geschichte zu erzählen. Die Wörter kamen wie ganz automatisch zwischen ihren Lippen hervor, doch es beruhigte sie etwas in den Händen zu halten, während ihre Gedanken auf Reisen waren.. Ihr Onkel hatte schon sehr früh begonnen an Gedächtnisschwund zu leiden und sie sorgte nun seit Jahren für ihn, so wie er sich um sie gesorgt hatte, als sie noch klein und unbedacht gewesen war. Er hatte ihr geholfen und zu einer Persönlichkeit ausgebildet, die gut zurecht kam, doch manchmal wollte sie mehr. Sana träumte von riesigen Schiffen, die große Meere durchquerten und Wäldern, pulsierend vor Leben. Sie fühlte sich einsam, wenn sie daran dachte. Eigentlich hatte sie sich schon immer einsam gefühlt, zwischen all den Menschen im Dorf, die sie zu hassen schienen. Früher hatte sie oft den anderen Kindern beim spielen zu gesehen. Sie hatte auf den Ästen der Bäume gesessen, die kleinen Beinchen hängen lassen und sich vorgestellt ein Tor zu schießen, oder sich zu verstecken, zu ärgern, wenn Jemand sie in ihrem tollen Versteck fand und nicht froh zu sein, dass die Anderen sie überhaupt suchten, doch die Erwachsenen hatten Angst vor ihr und von den anderen Kindern erntete sie nichts als Spott und Hohn. Manchmal, wenn ihr die Einsamkeit bewusst wurde dachte sie an ihre Eltern. Sie fragte sich wo sie waren, warum sie sie niemals besuchten, ob sie wohl noch lebten? Ihr Onkel hatte nur selten von ihnen gesprochen und ihr nie eine Antwort auf die Fragen gegeben, die ihr so auf dem Herzen brannten, dass es fast körperlich spürbar war. Und jetzt, ja jetzt war es zu spät, denn er hatte keine Antworten mehr. In seinem Kopf wirbelte ein gewaltiger Orkan, der nach und nach alle Erinnerungen mit sich riss. Seine klaren Momente waren nur noch rar gesät und in diesen wollte sie ihn nicht mit diesem Thema belasten. Sana klappte sein Tagebuch zu. In geschnörkelter Schrift, golden auf braunem Leder stand: Memoiren. Oft hatte sie ihn abends im schummrigen Licht einer Kerze vor diesem Buch sitzen und schreiben sehen. Er nannte sie immer häufiger Elisabeth. Ob sie ihrer Mutter wohl so ähnlich sah? Hatte sie die gleichen schwarzen Haare, die kaum zu bändigen waren? Oder die gleichen eisblauen Augen? Manchmal betrachtete sie sich im Spiegel und stellte sich vor, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie älter war, nur um ihrer Mutter in Gedanken ein Gesicht zu geben. Sie stand auf und legte eine alte Decke aus Schaffell über die Beine ihres Onkels. „ Ich geh etwas Essen besorgen. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald zurück und dann koche ich uns etwas leckeres." ,sagte sie in ruhigem Ton, um ihn nicht zu beunruhigen, beugte sich zu ihm hinab und küsste seine stoppelige Wange. Dann schulterte sie einen großen Stoffbeutel und ging hinaus. Die massive Holztür fiel mit einem Knall in das Schloss und der verwirrte Mann blieb allein zurück. Eine Träne suchte sich ihren Weg über seine Wange und tropfte auf den Boden. Er wusste, er würde seine Nichte nicht wiedersehen.


Sana ging an den Häusern der Nachbarn vorbei, über einen kleinen Hügel südlich des Dorfes. Dahinter lag, in einer Senke versteckt, ein kleines Bauernhaus. Scheune und Stall bestanden aus morschem Holz, zerfressen von Würmern. Schweine quiekten, als wüssten sie, das bald der Tod bevorstehen würde. Sie schaute sich um. Als sie sicher war, dass die Bewohner sich alle auf dem Markt, oder zumindest außerhalb ihrer Sichtweite befanden, kletterte sie über das Gatter eines Feldes, in dessen Erde kostbare Nahrung versteckt war. Mit einer geschmeidigen Bewegung setzte sie den Stoffbeutel ab und begann zu graben. Zügig, nur unterbrochen von kurzen Blicken, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurde, sammelte sie so viele Kartoffeln, wie sie tragen konnte. Flink überquerte sie das Gatter ein zweites Mal und atmete auf. Mit der Beute würden sie einige Zeit über die Runden kommen. Ihre Hände zitterten vor Adrenalin. Auf eine komische Art und Weise liebte sie den Nervenkitzel etwas Verbotenes zu tun. Schnell schob sie den Gedanken zu Seite und besann sich darauf, wie falsch es war, Jemandem, der vermutlich selbst alles brauchte, um nicht hungern zu müssen, dieses auch noch zu entwenden. Falls sie sie erwischten, stände ihr der Tod bevor. Mit der schweren Last auf ihren Schultern stapfte sie den Hügel hinauf. Die Seile gruben sich in ihre zarte Haut und hinterließen rote Striemen. Allmählich sammelten sich dunkle Wolken am Horizont und kamen unaufhaltsam näher. Als Sana gerade den Gipfel erreicht hatte, begann es zu stürmen. Der Wind fegte durch die Büsche am Wegrand, wirbelte Blätter über den Boden und ließ Baumkronen hin und herwehen. Sie blieb stehen, als sie ein Rascheln in dem Busch neben ihr vernahm, welches nicht dem Wind entstammte. Sie wirbelte herum, doch es war bereits zu spät. Drei Männer ihres Dorfes sprangen aus ihren Verstecken und versperrten ihr jeglichen Fluchtweg. Sie entrissen ihr die Tasche und stießen sie zu Boden. Sana griff nach dem Stoffbeutel, doch dieser rollte bereits den Hang hinab. Einzelne Kartoffeln kullerten den Hügel hinunter. Sie sprang auf, wollte wegrennen, einfach nur so schnell wie möglich weg von diesen Kerlen, doch da traf sie ein Schlag gegen die Schläfe. Sie schrie vor Schmerz und sank in sich zusammen. Der Schrei wurde jedoch jäh unterbrochen, als sie ein Tritt in den Magen zum Würgen zwang. Blut rann in ihre Augen, brannte so sehr, dass ihr die Sicht getrübt wurde. Ihr blieb keine Zeit, sich zu regen, ihren Körper zu schützen. Gedanken rasten wie Wirbelstürme in ihrem Kopf, unfähig auch nur einen zu ergreifen. Verschwommen sah sie einen weiteren Tritt auf sich zukommen. Er traf ihre Brust mit einer Wucht aus Angst und Hass, sodass alle Luft aus ihren Lungen wich. Der Schmerz war allumfassend und ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Todesangst stieg in ihr auf. Sie musste würgen und ein metallischer Geschmack machte sich auf ihrer Zunge breit. Sie würde diesen Angriff nicht überleben, dachte sie und ihre Muskeln erschlafften. Die Geräusche um sie herum wurden dumpf. Ein weiterer Tritt traf sie am Rücken. Ihr Atem verlangsamte sich und Schwärze umnachtete ihre Augen. Plötzlich spürte sie keine Schmerzen mehr, keine Tritte, keine Schläge. Die Geräusche waren nun vollständig verschwunden und es herrschte eine drückende Stille. Ein letzter Ruck ging durch ihren Körper und aus dem tiefen, beängstigenden Schwarz wurde ein grelles Licht, weiß und klar. Es nahm alles ein, jeder noch so kleine Schatten in ihrer Umgebung wurde in Licht gehüllt. Wie ein Blitz verschwand es so schnell wie es gekommen war. Das Weiß machte der Schwärze wieder Platz, die sie nun endgültig verschlang und nie mehr auszuspucken drohte.




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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 04, 2018 ⏰

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