Z E H N | Von Geparden und Schalentieren

290 48 73
                                    

Hastig warf ich die Mascara Flasche auf die Kommode zwischen Fenster und Waschbecken, vor dem ich gerade stand. In dem Moment war e vollkommen uninteressant, dass sie statt dort liegen zu bleiben runterrollte und schließlich zwischen den Fasern des marineblauen Teppichs, der auf den gleichen grauen Fliesen wie in der Küche lag, stecken blieb.

Das einzige, das wichtig war, war, dass Viktor vor der Tür erneut meinen Namen rief und ich hoffte, dass er sich nicht verletzt hatte. Aufgrund der Gefahr, die durchaus bestand, lief ich flotten Schrittes durch das Wohnzimmer und dann durch den Flur zur Tür.

Vor dieser erwartete mich jedoch kein Junge, der irgendwelche Verletzungen hatte- zumindest keine sichtbaren. Viktor stand dort mit einem breiten Grinsen und hinter dem Rücken verschränkten Händen, von denen er im dem Augenblick da er bemerkte, dass ich vor ihm stand mir ungeduldig wippend eine hinhielt.

Statt diese zu ergreifen und mich von ihm mitziehen zu lassen, begrüßte ich ihn mit einem schlichten „Hi Viki!“ Ohne zu antworten fragte er sofort darauf los: „Bist du fertig? Kommst du mit? Kannst du hochkommen? Mit mir?“

Er verwirrte mich nicht, da alle seine Fragen den gleichen Inhalt hatten. Nämlich, dass er wollte, dass ich mit ihm nach oben kam.

Gerade als ich ihm antworten wollte, dass ich mich eigentlich noch zu Ende fertigmachen müsste, kam er einen Schritt näher und machte erneut Anstalten meine Hand zu ergreife, um mich mit sich zu ziehen. Rein logisch betrachtet wäre dies aufgrund der Differenz seiner und meiner Körpermaße und auch Größe unmöglich. Nach kurzem Abwägen entschied ich mich hingegen meines eigentlichen Vorhabens direkt mit Viktor mit zu gehen. Zum einen, weil Noah mich vorgestern auch schon ungeschminkt gesehen hatte. Zumal ich am Freitag sogar noch eine Jogginghose und T-Shirt getragen hatte. Des weiteren sollte laut Noah niemand außer ihm, Viktor und eventuell dessen Mutter vor Ort sein.

„Warte, Viki“, hielt ich ihn auf und sah seine Mundwinkel schon herunterrutschen noch bevor ich weitersprechen konnte. Es war schon unglaublich, wie enorm er mir mittlerweile vertraute und mich mochte. Ich sah ihn vor mir, wie er sich hinter Noah versteckte und sich in dessen Hose krallte und dann erinnerte ich mich daran, dass er mir ein Geheimnis, auch wenn es kein großen gewesen war, anvertraut hatte und schließlich wie er mich bat ihn ins Bett zu bringen.

Ich konnte mir seinen enormen Verhaltensumschwung nur einigermaßen logisch dadurch erklären, dass er entweder eine gewisse Zeit brauchte um aufzutauen oder dass es einfach daran lag, dass sein Vater ihn mir anvertraute. Wobei ich das zweite noch ein bisschen realistischer fand als das erstere.

„Viktor, ich wollte sagen, dass ich mir nur eben die Schuhe anziehen muss“, versuchte ich wieder sein Gesicht zum Strahlen zu bringen und siehe da es funktionierte. Schnell setzte ich mich auf den Boden neben der Garderobe, um ihm beim Anziehen der Schuhe nun ein besseres Vorbild zu sein, als beim letzten Mal und sah ihm lachend dabei zu, wie er sich ein paar Mal mit jubelnden Fäusten um sich selber drehte. Der strahlende Junge machte das triste, graue Treppenhaus augenblicklich ein bisschen heller und die kurzen ihm entweichenden Jauchze auch lebendiger.

Nachdem ich dunkelbraunen Boots verschnürt hatte und beschlossen hatte, dass ich über dem olivgrünen Kapuzenpullover keine Jacke brauchte, zog ich die Tür hinter mir zu, verschlosss sie ordnungsgemäß und verstaute den Schlüssel, der mittlerweile an einem Ring mit einem mit Freyja geflochtenem Band hing, in der Hosentasche.

Lachen ließ ich mich nun von Viktor die Treppe hinaufziehen, wobei ich mich natürlich selbständig bewegte und nur so tat als könne er mich ziehen. Vor der Wohnungstür fuhr ich mich einmal durch meine brustlangen du kastanienbraun farbigen Locken, während ich mich über die leise nach draußen dringende Musik wunderte. Erneut rückte ich meinen Pullover zurecht und sah Viktor dabei zu, wie er auf die Klingel drückte und danach unruhig auf und ab lief.

fleur de cerisier //Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt