Zuerst dachte ich, das klägliche Wimmern wäre bloß eine Halluzination, verursacht durch den Regen, der immer stärker auf den dunklen Asphalt zu trommeln begann. Der Himmel war eine Mischung aus einem dunklen Grau und einer Farbe, die ich nicht ganz definieren konnte, aber sie hatte etwas Überwältigendes an sich. Von meinen Haarspitzen tropften trotz der Kapuze dicke Wassertropfen auf meine Stirn, rannen meine Schläfen und Wangen hinunter bis zum Kinn, bevor sie sich schließlich in meinem Pullover verloren.
Dieser kalte, ungemütliche Herbsttag ließ diese Gegend noch trostloser erscheinen und die heruntergelassenen Fensterläden gaben dem Ganzen das Gefühl eines Weltuntergangsszenarios. Die Straße neben mir war vollkommen leergefegt, bis auf die Blätter, die sich am Straßenrand aufhäuften und nur darauf zu warten schienen, dass sie irgendwann einfach nicht mehr sein würden.
Der kalte Wind ließ mich zittern und trieb mir den Regen ins Gesicht. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, ob das leidvolle Geräusch der Wirklichkeit entsprach. Meine Stirn legte sich in Falten, als ich meine Augen fest zusammenkniff. Einerseits wegen des unerbittlichen Regens und andererseits, weil ich mich besser auf die leise Stimme konzentrieren wollte.
Die leuchtend orange Sonne war schon längst hinter den niedrigen Hausdächern verschwunden. Die graue Brühe am Horizont ließ alles beinahe unheimlich wirken. Das unaufhörliche Niederprasseln des kalten Regens ließ es so erscheinen, als würde jemand hinter mir sein, mir mit immer schneller werdenden Schritten näherkommen, doch hinter mir war nichts außer einer dichten Regenwand. Die größtenteils schon kahlen Äste der Bäume am Wegrand bogen sich im Wind und ich sehnte mich nach dem alten und wärmenden Ofen in meinem kleinen Wohnzimmer, welches mit einer weichen Decke und hoffentlich noch genug Kaffee für diesen Abend auf mich wartete.
Immer noch wurde der Wind von einem leisen Weinen begleitet, es trieb mir förmlich eine Gänsehaut über den Rücken. Aber dieses Mal beruhigte es mich auch nicht, als ich die kleine Bushaltestelle mit den flackernden Laternen erblickte, die mir anzeigte, dass es nicht mehr lange bis zu mir nach Hause dauern würde.
Schnell versuchte ich, mir den Regen aus den Augen zu wischen, kniff sie danach ein weiteres Mal fest zusammen und atmete einmal tief ein, als ich mir ganz sicher war, dass das Wimmern tatsächlich keine Einbildung war. Kurz zögerte ich, unwillkürlich war ich langsamer geworden und spürte den Regen nun hart auf meine Kapuze trommeln. Ich war bis auf die Knochen durchnässt und eigentlich hätte ich alles dafür gegeben, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, doch das, was ich sah, ließ mich tatsächlich anhalten.
Durch den starken Regen und nur erhellt vom schwindenden Licht der Straßenlaternen war es nicht einfach zu erkennen, aber ich war mir sicher, dass ein junges Mädchen völlig in sich zusammengesunken auf der schmalen Bank unter dem kleinen Glashäuschen kauerte und noch lauter weinte, als der Wind wehte.
Die Haare – deren Farbe ich von hier aus nicht wirklich wahrnehmen konnte, aber es musste etwas Dunkles sein – verdeckten ihr Gesicht. Sie hielt es ohnehin in ihren schmalen und zierlichen, schon beinahe mageren Händen versteckt. Trotz des grauenhaften Wetters trug sie nicht viel mehr als eine ganz normale Jeans und ein dünnes, graues Oberteil, welches mit seiner Farbe perfekt zur Trauer des Himmels passte, soweit ich das von der anderen Straßenseite aus beurteilen konnte. Ihr Oberkörper erbebte, wurde immer wieder von einem starken Schluchzen erschüttert und ohne sie überhaupt zu kennen, schnürte mir ihr Anblick die Kehle zu. Hier in der Gegend wohnten nicht viele Mädchen in ihrem Alter, bestimmt hätte ich sie erkannt, wenn sie den Kopf gehoben hätte. Aber sie hielt ihren Blick gesenkt, immer auf den steinigen, mit Rissen verzierten Boden gerichtet.
Ihr Anblick machte etwas mit mir, was ich mir bis in alle Ewigkeit nicht erklären konnte. Es löste etwas in mir aus, so als würde die dünne Stoffhülle, in die ich mein ganzes Leben, ohne es zu merken gehüllt war, mit einem Mal zerreißen und mich endlich klarsehen lassen.
Sie hatte mich immer noch nicht bemerkt und der Wind trug weiterhin ihr wehleidiges Schluchzen zu mir herüber. Ich wandte meinen Kopf langsam zur einen, dann zur anderen Seite, bevor ich mit schnellen Schritten die immer noch leere Straße überquerte. Damit mein plötzliches Auftreten, das mir bis jetzt noch fremde Mädchen nicht allzu sehr erschrecken würde, zog ich mir die Kapuze etwas weiter aus der Stirn.
Natürlich war mir bewusst, dass es nichts weiter als eine dämliche Einbildung war, aber als ich die andere Straßenseite erreichte und den ersten, vorsichtigen Schritt auf den Bürgersteig vor der Bushaltestelle setzte, fühlte es sich für den Bruchteil einer Sekunde so an, als hätte es aufgehört zu regnen. Kein Wasser mehr, das auf die Erde niederprasselte, kein Wind mehr, der ein unangenehmes und kaltes Rauschen verursachte. Kein Wimmern, kein Schluchzen. Es war, als würde die Welt um uns herum einfach schweigen.
Das war der Moment, in dem sie ganz langsam und behutsam ihren Kopf hob. Ihre jetzt erkennbaren, haselnussbraunen Augen wurden kurz groß, sie starrte mich bloß an und ihre Unterlippe zitterte, aber tatsächlich verließ kein Laut mehr ihren Mund. Ihre Augen waren ganz rot, sicherlich vom Weinen, ihr Atem ging schnell und flach und ihr ganzer Körper bebte. Ich wusste nicht genau, ob die Kälte dafür sorgte, doch wahrscheinlich lag es viel mehr an dem Grund, der den Ausdruck von nackter Angst und Verzweiflung in ihrem Gesicht verursachte.
Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie kannte, zumindest vom Sehen her. Bestimmt war sie mir schon einmal im Supermarkt begegnet oder vielleicht hatte ich sogar schon mal mit ihren Eltern gesprochen. Aber ganz egal wie bekannt mir ihr Gesicht auch vorkam, an ihren Namen konnte ich mich nicht erinnern.
»Du solltest bei so einem Wetter nicht hier draußen sein.« Meine Stimme klang längst nicht so rau wie sonst, viel mehr hatte sie jetzt schon einen regelrecht sanften Unterton und ich wusste selbst nicht genau, warum mir das so wichtig war.
Sie antwortete nicht, starrte stattdessen wieder auf ihre Hände oder zwischen ihren Beinen hindurch auf den Boden, genau konnte ich es nicht sagen. Ich betrachtete sie für ein paar wenige Sekunden, das laute Geräusch des Regens setzte wieder ein und ich fuhr mir mit einer Hand einmal durch die nassen Haare. »Du bist schon ganz nass, willst du nicht lieber wieder nach Hause gehen?«
»Nein«, war alles, was sie sagte, und für einen winzigen Moment war ich von ihrer Antwort zu verblüfft, als dass ich etwas hätte erwidern können. Die Verbitterung und Angst in ihrer Stimme verwirrten mich und bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, brach sie auch schon wieder in Tränen aus.
Meine Brust schnürte sich zusammen, ich fühlte mich neben diesem fremden Mädchen so unglaublich hilflos. Irgendetwas schien ihr panische Angst zu machen, so sehr, dass sie es sogar in Kauf nahm, hier im Regen und in der Kälte zu sitzen, anstatt nach Hause zu gehen. Ihr Körper zitterte so sehr, dass ich Angst hatte, sie könnte jeden Moment zerbrechen, als mein Blick auf den freien Platz auf der Bank neben ihr fiel. Kurz zögerte ich, doch dann setzte ich mich einfach neben sie.
Das Mädchen schien nicht sonderlich überrascht zu sein, sie blickte nicht einmal auf. Stattdessen vergrub sie das Gesicht wieder in den Händen und begann nur noch lauter zu schluchzen. Nervös und überfordert kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Anstatt sie anzusehen, starrte ich jetzt geradeaus durch die dichte Regenwand auf die Straße. Der Geruch von feuchten und halb vermoderten Blättern stieg mir in die Nase.
»Wie ist dein Name?«, versuchte ich ein letztes Mal ihr herzzerreißendes Wimmern zu durchbrechen. Ich wusste selbst nicht, warum ihr Anblick so sehr schmerzte, aber ich wollte nicht, dass sie weinte. Irgendetwas sagte mir – aus welchen Gründen auch immer sie hier sitzen mochte – dass sie es ganz sicher nicht verdient hatte.
»Marie.«
»Also gut, Marie«, ich seufzte leise, wandte meinen Blick dann aber doch wieder zu ihr. Tatsächlich sah auch sie wieder auf. Schnell versuchte sie sich die Tränen von den Wangen zu wischen, fast so, als könnte sie es damit rückgängig machen, dass ich sie weinen gesehen hatte. »Ich denke, du magst Tee?«
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Daddy Issues | LESEPROBE
RomanceJesters Leben ist geradlinig. Nicht unbedingt einfach, aber simpel. Marie ist anders. Schöner, tiefgründiger, unschuldiger - zerbrechlicher. Und vor allem kompliziert. Die Zwei finden in einer Welt zueinander, in der sie sich beide schrecklich fehl...