Die Nacht danach konnte ich außerordentlich gut schlafen, was ich wahrscheinlich eher dem Alkohol und den endlos langweiligen Gesprächen über Politik und Football zu verdanken hatte, als dass ich endlich aufhören konnte, an Marie zu denken. Denn das tat ich nicht. Zwar fühlte es sich so an, als wäre ich die Nacht über hinter einer dichten Wand aus schwarzem Nebel verschwunden, doch sobald ich aufwachte, dachte ich wieder an ihre braunen, langen Haare und die Sommersprossen, die so verblasst wirkten wie die Buchstaben eines alten Buches.
Am nächsten Morgen saß ich mit einer wärmenden Tasse Kaffee in den Händen auf meinem alten Sessel im Wohnzimmer, starrte die leere Couch gegenüber an und versuchte die leichten Kopfschmerzen zu ignorieren. Gott sei Dank war heute Samstag.
Wobei das für mich wahrscheinlich nur halbes Glück bedeutete, denn so war es geradezu unmöglich, Marie aus meinem Kopf zu verbannen. Umso mehr frustrierte mich die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wie sie es nach nur einer einzigen Begegnung und schließlich nach einer zweiten, die man als solche eigentlich gar nicht bezeichnen konnte, geschafft hatte, sich so sehr in meinem Kopf festzusetzen, als würde ich schon seit Jahren von ihrer Existenz wissen.
Aber noch viel mehr irritierte mich die Erinnerung an Dalvins Worte gestern Abend, die einen durchaus seltsamen Nachgeschmack bei mir hinterlassen hatten. Zu jung für dich. Von derartigen Mädchen solltest du lieber die Finger lassen, ist besser für dich.
Zweifellos war Marie jung, ich schätzte sie auf fünfzehn maximal siebzehn, aber ich hatte keine Ahnung, wie Dalvin auf die Idee kam, dass ich deshalb nach ihr fragte. Dass ich nach ihr fragte, weil ich sie auf diese Art und Weise kennenlernen wollte. Denn das wollte ich nicht, ganz bestimmt nicht. Zumindest versuchte ich mir das gerade einzureden, denn bei dem Gedanken an seine Worte bildete sich ein merkwürdig schmerzhafter Knoten in meiner Brust.
Nachdem ich ein weiteres Mal an diesem Morgen an meiner Kaffeetasse nippte, ohne wirklich einen Schluck zu nehmen, riss ich meinen Blick schließlich von der im Halbdunkeln liegenden, leeren Couch los und stand stattdessen auf, um die Fenster von den Vorhängen zu befreien. Es schien noch relativ früh zu sein. Ich war so beschäftigt mit meinen Gedanken an Marie und meiner normalerweise so lebensnotwendigen Tasse Kaffee, dass ich es nach dem Aufstehen nicht einmal geschafft hatte, auch nur einen kurzen Blick auf die Uhr zu werfen. Auf mein Handy sah ich sowieso nicht allzu oft, dazu gab es immerhin auch keinen Grund. Schließlich war Dalvin der Einzige, der mir ab und zu mal schrieb, und die Nummern alter Freunde oder Klassenkameraden hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr angerührt. Die Sonne schien noch nicht allzu lange über dem kleinen Ort, in welchem ich mich seit Jahren irgendwie zu Hause und doch immer noch wie ein Fremder fühlte, aufgegangen zu sein, und die goldenen Sonnenstrahlen erinnerten mich an die Minuten, nachdem der Regen aufgehört und ich Marie ihre Teetasse gereicht hatte.
Einen Moment lang verharrte ich noch vor dem Fenster, welches dringend mal wieder geputzt werden musste, da der Staub langsam doch deutlich sichtbar wurde, bevor ich mich schließlich wieder abwandte und mich zum ersten Mal an diesem Morgen auf die Suche nach meinem Handy machte. Schließlich fand ich es in der Küche, halb vergraben unter dem immer noch dreckigen Geschirr. Eine wirkliche Überraschung erwartete mich nicht. Der Akku war so gut wie leer, keine neuen Nachrichten außer einer E-Mail, die bestätigte, dass mein Lohn überwiesen wurde. Wenigstens eine gute Nachricht am Tag.
Ich legte mein Handy also wieder zur Seite und betrachtete meine Küche zum ersten Mal seit Ewigkeiten richtig. Es war ekelhaft, wirklich ekelhaft. Aber sogar dieser Gedanke erinnerte mich wieder an Marie, denn nun hoffte ich inständig, dass sie bloß nicht in der Küche gewesen war, während ich geschlafen hatte. Vielleicht war sie ja auch gerade deswegen gegangen.
Leise seufzte ich und rieb mir die Schläfen, aus irgendeinem Grund bereitete mir diese Vorstellung Kopfschmerzen. Wahrscheinlich, weil mir das erste Mal wirklich bewusst wurde, wie verwahrlost ich lebte. Wie ich tagtäglich ohne einen großen Sinn vor mich hin vegetierte, weil ich davon ausging, dass dieses Leben eh nichts Großes für mich bereithielt. Aber seitdem ich Marie getroffen hatte, wurde mir das alles schmerzhaft bewusst gemacht.
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Daddy Issues | LESEPROBE
RomansaJesters Leben ist geradlinig. Nicht unbedingt einfach, aber simpel. Marie ist anders. Schöner, tiefgründiger, unschuldiger - zerbrechlicher. Und vor allem kompliziert. Die Zwei finden in einer Welt zueinander, in der sie sich beide schrecklich fehl...