Das Traurigste an einem Grab sind die ersten Tage, wo der Sarg noch relativ weit oben ist und die Erde frisch aufgehäuft wurde. Dann erinnert man sich daran, wie schnell das Leben vorbeisein kann und das der Mensch doch noch sehr nah am Leben ist. Ist der Sarg erst weiter runtergesackt, ist der Schmerz nicht so groß. Die Entfernung ist weiter. Doch gerade in den ersten Tagen spürt man geradezu die Spuren des Menschen, wie, als steht er neben einem. Ich hatte die Erlaubnis bekommen, die Sachen zu vergraben, damit Grace sie bei sich hat. Doch das Tagebuch wollte ich auf das Grab legen. Grace war immer stolz auf ihr Tagebuch gewesen. Sie hat es nie versteckt. Ihr war es nie peinlich, Tagebuch zu führen. Sie würde bestimmt wollen, dass es öffentlich auf ihrem Grab sichtbar für alle ist. Aber niemand konnte es ohne die Schlüssel aufschließen. Nach der ganzen Schaufelei und zu vielen Gefühlen ging ich in das nahegelegene Café, um mich zu stärken. Als ich zurückkam, um noch einmal nach dem Rechten zu sehen, sah ich einen Mann, ungefähr in meinem Alter, an Grace 's Grab knien. Ein goldener Ohrring blitzte an seinem rechten Ohr. Plötzlich stieg Wut in mir hoch. Ein völlig Fremder wollte von meiner Schwester Abschied nehmen? Er war noch nicht einmal bei der Beerdigung gewesen! Wie konnte er es wagen?! Seine in Gebethaltung gehaltenen Hände wanderten langsam nach vorne. Obwohl ich hinter ihm stand, konnte ich von weitem sehen, dass er am Tagebuch hantierte. Jetzt war die Grenze erreicht! Ich rannte zu ihm rüber, drückte ihn seitlich auf den Boden, gab ihm einen Backpfeife und schrie: „Was tust du mit dem Tagebuch meiner Schwester?!" Alle Friedhofbesucher drehten sich verwirrt und mit tadelndem Blick um. Ich zog ihn hoch, schleifte ihn in eine Mauerecke und fragte etwas leiser als vorher: „Muss ich mich wiederholen? Was willst du von meiner Schwester?!" Sein verängstigter Blick zeigte nun einen Hauch von Verschmitztheit. „Du weißt nicht, wer ich bin?" „Seh ich so aus, als würde ich das wissen?" Sein verschmitztes Lächeln wurde zu Selbstsicherheit. „Deine Schwester hat mich nie erwähnt?" „Warum sollte meine Schwester dich kennen?" sagte ich fast beleidigt. Nun grinste er mich mit einer Überlegenheit an, die mir Angst machte. Als er spürte, dass mein Griff um sein Shirt sich gelockert hatte, nahm er meine Hand und führte sie behutsam runter. Ich bekam Gänsehaut. „Sagen wir einfach, ich bin ein... Freund deiner Schwester. Ich wollte ihr die letzte Ehre erweisen, indem ich..." „ihr Tagebuch stehle?" vervollständigte ich wütend seinen Satz. „...ihr Blumen bringe. Außerdem, wozu sollte ich ihr Tagebuch stehlen? Um es zu öffnen und zu lesen? Tut mir leid, aber das hat schon jemand anderes erledigt." „Was meinst du damit?" knurrte ich. „Na, sieh doch selbst." grinsend ging er zurück zum Grab. Ich folgte ihm hastig. Als wir schließlich angekommen waren, meinte er: „Siehst du?" ich traute meinen Augen nicht. Vor uns lag ihr Tagebuch. Die Schlösser offen, das Buch aufgeschlagen. Man konnte einen Eintrag in Tinte geschrieben sehen. Ich bekam fast einen Herzinfarkt. Oben stand das heutige Datum.
Gegenwart
„Und Sally, war doch spannend, oder?" „Ich bin halt nicht so geduldig wie du, Sara!" „Und das, obwohl ihr sonst so gleich seid. Ich kann euch kaum unterscheiden!" „Das liegt daran, dass wir Zwillinge sind, Oma May!" „Ja, das weiß ich doch, Sara. Deswegen sind wir alle ja heute hier. Weil wir euren gemeinsamen 6. Geburtstag feiern!" „Ja, und als Geburtstagsgeschenk erzählst du uns die Geschichte!" „Erzähl weiter, Oma May!" „Okay. Also, nachdem wir das offene Tagebuch gesehen hatten, haben wir..."
DU LIEST GERADE
Das Tagebuch einer Toten
Teen FictionMay ist am Boden zerstört. Ihre Schwester ist tot. Als sie alle ihre verbliebenen Sachen ihrer Schwester zum Grab bringt, achtet sie besonders auf ihr Tagebuch. Sie weiß, dass ihre Schwester dem Tagebuch alles anvertraut hat. Als sie 1 Stunde später...