Trauermarsch allein

34 6 1
                                    

Außer mir war keiner gekommen. Niemand außer mir, dem Pfarrer und den Sargträgern war gekommen, um Abschied von Grace Winkelton zu nehmen. Nach der Herablassung des Sarges und dem mitleidigen Blick des Pfarrers war auch schließlich ich gegangen, um ihre Sachen holen zu gehen und nochmal persönlich Abschied von ihr zu nehmen. Als ich die Tür aufschloss und ihre Sachen zusammensuchte, fiel mir der Zeitungsartikel in die Hände: „28-Jährige mit Auto von Klippe gestürzt. Unfall, Falle oder Selbstmord?" las ich mir selbst vor wobei ich das letzte Wort im Stillen las. Pah! Jeder außer meiner Schwester würde so etwas tun! So etwas Oberflächliches.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, was es bedeutete, so etwas zu tun. Mir war nicht klar, was in den Menschen, die das taten, vor sich ging. Ich dachte, sie würden nur an sich denken. Aber ich lag falsch.
Ich nahm eine Box und tat alles behutsam hinein; Ein Foto von ihr, ihr Lieblingsbuch, selbst ihr Handy. Ihr Plüschtier von früher, das Halsband ihres Hundes und zu guter Letzt ihr Tagebuch. Das, was ihr mehr bedeutete als alles andere. Sie hat alles, was ihr passiert war und an was sie gedacht hat, reingeschrieben. Ihren Lebensverlauf, ihr Traumleben, ihren Alltag. Pläne, Hoffnungen, Träume. Selbst ich, May Winkelton, ihre einzig lebende Verwandte, ihre Zwillingsschwester durfte nicht hineinsehen. Nie. Sie hat 5 Schlösser und ein Passwort an dem Tagebuch angebracht und jedem einzelnen Schlüssel an einer anderen Stelle in ihrem Zimmer versteckt. Den einzigen Text, den ich je aus ihrem Tagebuch erhielt, war ihr Plan für ihre Beerdigung. Richtig. Meine Schwester, 28 Jahre alt, hat ihre Lebensvorstellung durchgeplant, bis hin zu ihrer Beerdigung. Ich habe alles so gemacht, wie es auf dem kleinen Notizzettel stand. Vor 2 Jahren gab sie ihn mir und sagte: „ Pass gut auf ihn auf. Du wirst die Infos gebrauchen. Und alles soll so sein, wie es da drauf steht, verstanden? Jeder einzelne Punkt soll ohne Wenn und Aber so an diesem Tag sein, kapiert?" Ich hatte noch nie einen so drängenden Blick bei ihr gesehen. Selbst das Datum hatte sie sich ausgesucht. Der erste Mittwoch in der ersten Woche im April. Ich hatte in mindestens 40 Jahren mit der Erfüllung dieses Zettels gerechnet, aber nun stand ich da, in ihrem Zimmer, alle Möbel verhüllt, bereit, um übermorgen vom Möbelpacker mitgenommen zu werden. Bevor eine Träne auf das Tagebuch fallen konnte, packte ich es in die Box. Ich überlegte, ob ich die Schlüssel mitnehmen sollte. Ich hatte sie beim Durchsuchen ihrer Sachen gefunden. Doch dann dachte ich mir: Nur Grace kann und wird dieses Tagebuch mit diesen Schlüsseln öffnen. Schnell packte ich die Schlüssel in den Tresor hinter dem Bild in meinem Zimmer und ging zurück zum Friedhof.

Gegenwart
„Jetzt passiert der magische Teil, nicht wahr, Oma May?" „Nein Sally, jetzt passiert doch erst der Teil, wo Oma May die Sachen zu Großtante Grace bringt!" „Aber der ist so traurig! Erzähl gleich den spannenden Teil, bitte Oma May!" „Nein, Oma May muss die ganze Geschichte erzählen!" „Ruhig, ihr kleinen Überflieger. Du hast Recht, Sara, ich erzähle die ganze Geschichte. Ihr wolltet sie doch schließlich hören, oder nicht? Also..."

Das Tagebuch einer TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt