Das Tagebuch war aufgeschlagen. Es war mit dem heutigen Datum versehen. Die Schlösser lagen offen daneben. „Das warst du, nicht wahr? Gib es zu! Wie konntest du die Schlösser öffnen?!" schrie ich den Unbekannten erneut an und hielt ihn am Shirt. Es kostete mich ein bisschen mehr Überwindung als vorher. „Wie ich die Schlösser aufbekommen haben konnte? Gute Frage! Und wenn ich die Antwort wüsste, würde ich dir das vielleicht auch sagen." er redete ruhig und in seiner Stimme lag ein Hauch von Überlegenheit. Das „vielleicht" machte ihn noch überlegener und die Selbstsicherheit machte mir ein bisschen Angst. „Dann erklär mir das! Du warst an ihrem Grab zu Gange!" „Blitzmerker! Und hast du nicht selbst geda... äh, gesagt, dass nur Grace es aufschließen kann?" „Was meinst du damit? Bis eben habe ich nie mit dir gesprochen! Niemals habe ich diese Gedanken ausgesprochen? Spionierst du mir nach?" In der einen Sekunde, in der sich mein Griff kurz lockerte, nutzte er die Gunst der Stunde und riss sich los, wandte sich um, wobei er einen Zettel fallen ließ und wegrannte. Bevor ich ihn fassen oder ihm hinterherrennen konnte, bückte ich mich runter, steckte den Zettel in meine Tasche und betrachtete das Tagebuch genauer. Die Tinte war noch frisch. Die Schrift erkannte ich sofort wieder. Ich blätterte eine Seite vor. Mir schauderte zuerst. Das Datum war ein Tag vor ihrem Todestag. Doch das Wichtigste war: es war die Schrift meiner Schwester. Niemand hätte sie so gut nachmachen können. Sie schrieb Punkte immer als Kringel, die i-Punkte waren Herzen und sie hatte eine unverwechselbare Schreibschrift. Obwohl damit sicher war, das der mysteriöse Junge diesen Eintrag nicht verfasst hatte, konnte und wollte ich ihn nicht aus meinen Gedanken streichen. Was hatte er mit meiner Schwester zu tun? Ein „Freund", hatte er gesagt. Ich kannte alle Freunde meiner Schwester. Ich hätte ihn vorher sehen müssen. Neugierig, aber auch vorsichtig begann ich den Eintrag zu lesen. Schon als ich anfing, machte mein Herz einen Satz. Er begann mit „Liebe Schwester". Der Eintrag war an mich gerichtet! Von... Grace?
Liebe Schwester,
Danke für die Beerdigung. Du hast meinen Zettel befolgt. Wahrscheinlich wunderst du dich, wie mein Tagebuch offen sein kann. Leider kann ich dir das nicht beantworten. Noch nicht. Es wäre zu gefährlich für dich, das zu wissen. Du bist mit dem Lesen dieses Textes mehr oder weniger gezwungen in eine gefährliche Lage gerutscht. Du hast hiermit eine Möglichkeit gefunden, zwischen Lebenden und Toten zu kommunizieren, was in eurer Physik alles sprengen würde. Es ist für euren Verstand zu übermenschlich zu begreifen, wie das hier funktioniert. Aber du kannst auch mit mir in Verbindung treten, nicht nur ich mit dir. Lege einfach einen Zettel von den Notizzetteln hinten im Buch mit deinem Text, deiner Frage, was auch immer du mir sagen willst, hinein. Alles weitere wirst du schon im Laufe der Zeit verstehen. Vergesse nur eins nicht: Erzähle nie jemandem davon. Es würde Raum und Zeit sprengen. Wir wären alle in Gefahr, sowohl ihr, als auch wir. Ich habe aber erstmal eine Frage an dich: War ein gewisser Luke hier? Er hat braune Haare, grüne Augen und einen Ohrring. Du müsstest ihn eigentlich erkennen. Du kennst ihn nicht, aber er wird dir einiges erklären können. Ich hab dich lieb.
GraceMir kamen Tränen in die Augen. Grace... lebt? Na ja, in gewisser Weise. Sie... kommunizierte mit mir aus ...dem Totenreich? Wie konnte so etwas möglich sein? Ich verstand die Welt nicht mehr. Waren das wirklich Worte meiner Schwester? Nachdem ich mich gefangen hatte, konzentrierte ich mich mehr auf den Inhalt. Wie sehr sie zwischen mir und ihr distanzierte, versetzte mir einen Stich ins Herz. Aber etwas beschäftigte mich noch viel mehr: Die Beschreibung des Jungen passte genau auf den Unbekannten von eben. Luke... er kann mir Antworten geben? Meine Schwester kannte ihn also wirklich. Lege einfach einen Zettel von den Notizzetteln hinten im Buch mit deinem Text, deiner Frage, was auch immer du mir sagen willst, hinein. Die Notizzettel... Grace hatte sie immer bei sich. Wenn sie ihr Tagebuch nicht zur Hand hatte, schrieb sie ihre Gedanken darauf. Letztes Jahr gab sie mir mal einen und sagte: „Hebe ihn gut auf, May. Er wird dir später nochmal nützlich sein." Erst dachte ich, ich könnte mir eine To Do-Liste darauf schreiben, aber ich ließ hinsank doch unbeschrieben und packte ihn in meine Tresor. Warum habe ich ihn nicht rausgenommen? Doch im hinteren Teil des Buches war ein verstecktes Fach voll mit Notizzetteln. Das Buch da von außen aus, als hätte es einen dicken Umschlag, aber es war ein Fach mit einer Klappe darin verborgen, ihn der ein Haufen Notizzettel versteckt war. Ich nahm einen heraus und begann zu schreiben. Liebe Schwester. Schön, dass du noch lebst. Nein, dass konnte ich nicht schreiben. Hey, wie geht's, wie steht's? Nein! May, Reiß dich zusammen, sagte ich mir. Doch wie sollte ich meine Gefühle in Worte fassen. Vor ihrem Tod wollte ich ihr noch so viel sagen, so viel mit ihr machen und jetzt brachte ich kein Wort heraus. Aber was sollte ich tun? Was sagt man seiner toten Schwester, wenn man die Möglichkeit hat, ihr etwas zu sagen? Schließlich schrieb ich:
Grace,
Ich kann es nicht fassen, dass ich noch einmal mit dir reden kann. Warum bist du gegangen Grace, warum? Alle denken, es war Selbstmord, aber es war doch nur ein Unfall, oder? Oder? Bitte sag ja, Grace. Ich will nicht anders denken. Du warst mein Vorbild. Du kannst dich einfach nicht selbst umgebracht haben, oder? Bitte Grace.
Als ich anfing zu weinen, wechselte ich schnell das Thema.
Ich habe Luke getroffen. Er hat versucht, dein Tagebuch zu öffnen! Als ich ihn zur Rede stellen wollte, rannte er weg. Er ließ einen Zettel fallen. Ich habe noch nicht gesehen, was drauf stand. Ich weiß nicht, wo er wohnt, die Wahrscheinlichkeit, ihn wiederzusehen, ist also gering.
Hab dich auch lieb. Mehr als alles andere.
May
Ich steckte den Zettel zwischen zu dem neuen Eintrag. Dann holte ich den Zettel von Luke raus.
Ich kann nicht glauben, dass du gegangen bist. Wir waren der Lösung so nahe. Sag mir einfach nur, was das Codewort ist. Ich erledige den Rest. Ich lasse ihn dich und deine Schwester nicht auslöschen. Ihr müsst uns retten!Zögernd legte ich den Zettel in das Buch zu meinem und verschloss es. Mal sehen, was meine Schwester darauf antworten würde.
Gegenwart
„Und was passiert jetzt, Oma May?" „Das weißt du doch, Sally! Oma May geht jetzt..." „Lalalala! Ich kann dich nicht hören!" „Du bist so kindisch, Sally!" „Du viel mehr!" „Nein, du!" „Nein, du!" „Nein..." „Ruhe, ihr beiden! Ich erzähle ja schon weiter! Nachdem ich das Grab hinter mir gelassen hatte..."
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Das Tagebuch einer Toten
Teen FictionMay ist am Boden zerstört. Ihre Schwester ist tot. Als sie alle ihre verbliebenen Sachen ihrer Schwester zum Grab bringt, achtet sie besonders auf ihr Tagebuch. Sie weiß, dass ihre Schwester dem Tagebuch alles anvertraut hat. Als sie 1 Stunde später...