Aller Anfang ist ein Ende

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1.September 2026

Es waren zu viele. Natürlich hatte man Haylie davon erzählt. Trotzdem. Als sie sich durch den Gang des viel zu vollen Zuges kämpfte, fühlte sie sich unglaublich klein und verloren. Haylie hatte sich schon oft klein gefühlt, beim Arzt, beim Hochsprung, auf dem Schulhof. Aber jetzt fühlte sie sich so klein wie noch nie.
Die Kinder und Teenager um Haylie herum beachteten sie kaum, warfen ihr höchstens einen flüchtigen Blick zu. Sie kamen Haylie eher wie Riesen als wie Zauberer und Hexen vor. Obwohl das eine kaum besser war als das andere. Sie alle hatten grosse Koffer und Käfige voller Tiere bei sich, die sie vor sich durch den Zug zwängten und lachten und redeten mit ihren Freunden. Ob es ihnen wirklich so wenig ausmachte, für ein ganzes Jahr weg zu fahren? Sie sahen nicht danach aus, als wären sie besonders traurig, sondern eher, als warteten sie nur darauf, ins nächste Abenteuer zu ziehen. Haylie fühlte sich mehr und mehr unwohl in ihrer Haut.
Die meisten Abteile waren bis auf den letzten Platz besetzt, und in die, in denen noch Platz gewesen wäre, traute sie sich nicht zu setzten.
Endlich fand sie ein leeres Abteil. Seufzend liess Haylie sich auf den Platz am Fenster sinken. Sie sah hinaus, doch von diesem Teil des Zuges aus konnte sie ihre Familie nicht sehen. Wahrscheinlich waren sie bereits wieder gegangen. Mühsam wandte sie sich ab und beäugte stattdessen ihren Koffer, mit ihren Sachen für ein ganzes Jahr, und dann die Gepäckablage über ihrem Kopf. Nie im Leben würde sie den da hinauf bringen. Dann musste er eben so stehen bleiben. Wenigstens schien er die Vorbeikommenden abzuschrecken, denn niemand setzte sich zu ihr. Gott sei dank.
Als der Zug sich in Bewegung setzte, musste Haylie sich eine Träne aus den Augen wischen. In diesem Tränenschleier zog London an ihr vorbei. So viele Jahre lang hatte sie die Hauptstadt unbedingt sehen wollen und nie die Chance dazu gehabt. Und jetzt hatte sie die Stadt heute bereits das zweite Mal in kurzer Zeit gesehen und beide Male würde sie ohne weiteres dafür eintauschen, wieder nach Hause zu können.

Es waren noch keine zwei Monate vergangen, seit eines schönen Sommertages plötzlich eine Frau an ihre Tür geklopft und Haylie und ihrer Familie erklärt hatte, dass Haylie einen Platz an einer besonderen Schule bekommen hatte. Eine Schule, von der sie nicht nur noch nie gehört hatten, sondern die, so wie sie die Frau beschrieb, auch unmöglich irgendwo existieren konnte.
Natürlich hatten sie ihr zuerst nichts von dem geglaubt, was sie ihnen erzählt hatte, aber für jede unmögliche Behauptung schien sie einen Beweis zu haben. Zauberei? Peng. Der Stuhl war plötzlich ein Schreibtisch. Hogwarts? Eine offizielle Beglaubigung des Ministeriums. Dass Haylie in diese Welt gehörte? Einen Eintrag im Schulregister, der tatsächlich auf ihren Namen lief, unterschrieben von mehreren hochrangiger Menschen, die sogar einige Referenzen aufweisen konnten.
Und während Haylie noch in Schockstarre auf ihrem Stuhl gesessen und versucht hatte, aus diesem Traum aufzuwachen, hatten ihre Eltern bereits begonnen, interessierte Fragen zu stellen.
Und bald war aus der Verrückten eine Abgeordnete einer wirklichen Schule für Hexerei und Zauberei geworden. Einer Schule, die angeblich so wirklich war, wie die Luft, die sie atmete. Eine Schule, auf die Haylie nun gehen sollte.
Man hatte Haylie erklärt, dass es eine Chance sei, dass sie Training bräuchte, dass ihr alles andere nur schaden würde. Es sei gefährlich für Hexen und Zauberer ohne Übung. Ganz abgesehen von der Gefahr für andere waren sie auch eine grosse Gefährdung für sich selbst.
Und ehe sie es sich versah, war sie hier gewesen. Hier, in diesem Zug.
Haylie fühlte, wie die Panik in ihr hochkochte. Sie konnte das nicht. Nicht einfach so. Sie war elf. Sie war viele Jahre zu jung, um einfach so von Zuhause wegzugehen.
Haylies Mutter hatte sie am Bahnsteig fest in die Arme geschlossen. „Es ist das Beste für dich, Haylie. Stell dir vor, du wirst all diese Dinge tun können, die andere nur in Filmen sehen. Du musst das als Chance sehen."
Ihr Vater hatte genickt. „Du schaffst das. Und wir werden dir schreiben. Ich wünschte, ich könnte erleben, was du erleben wirst."
Zugegeben, die Winkelgasse war beeindruckend gewesen, aber was änderte das? Haylie war nicht bereit zu gehen.
Nur Pacey hatte sie nicht überreden wollen zu gehen. Er hatte nur mit grossen Augen um sich gestarrt und nichts von dem verstanden, was um ihn herum vor sich ging. Sie hatten es ihm zu erklären versucht, aber es war schlichtweg zu viel für den Kopf eines 9-Jährigen.

Ausserhalb von Haylies Fensters zog die englische Landschaft vorbei.
Der Express käme erst am Abend an, hatte die Frau ihr erklärt. Trotzdem zog sie sich früh genug um. Zur Sicherheit.
Haylies neue Uniform war genau angepasst worden, aber sie fühlte sich kein bisschen bequem darin. Ihr war, als wäre sie eine Raupe, die sich Flügel angenäht hatte und versuchte, als Schmetterling durchzugehen und dabei alles verriet, was zu ihr gehörte.
Haylie hatte einige Bücher mitgebracht und auch ihre zukünftigen Schulbücher lagen in ihrem Koffer bereit. Aber sie wollte nicht lesen. Stattdessen sah sie aus dem Fenster, betrachtete die Welt und versuchte zu verdrängen, was gerade geschah. Sie wollte einfach nur Haylie Marwin sein. Das kleine, blonde Mädchen, dass in einer normalen Schule sass und mit seinen normalen Freunden redete und nach dem Unterricht in sein normales Zuhause ging. Dieses Mädchen, das absolut nichts mit Zauberstäben oder Umhängen zu tun hatte.
Aber hier war sie. Und während es draussen langsam dunkler wurde, näherten sie sich Hogwarts Meter für Meter und liessen dabei das Mädchen, das Haylie gewesen war, unwiderruflich zurück.

Als du starbst, hörte ich Engel fluchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt