Kapitel 4

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„Wie meinen Sie das?", erkundigte sich Lili vorsichtig, doch der Zentaur, Deron, hatte sich bereits von ihnen abgewandt und sprach nun stattdessen in gedämpftem Ton mit seinen Begleitern.
Flora tauschte einen unsicheren Blick mit ihren Freundinnen. Flora wusste, dass die anderen Angst hatten, weil sie nicht wussten wo sie waren, sie selbst fürchtete sich, weil sie nicht wusste, wann sie waren.
Narnia mochte eine magische Welt sein, aber sie war alles andere als starr gestanden und hatte sowohl schöne Zeiten gesehen, die Flora gerne einmal besucht hätte, als auch furchtbare, in denen hinter jeder Ecke eine neue Gefahr drohte.
Sie konnten genauso gut in Narnias Blütezeit, wie auch kurz vor seinem Untergang gelandet sein. Flora erschauderte beim Gedanken daran.
Nur eines konnte sie ausschliessen: Um sie herum schien die Sonne, nach dem langen Winter sah es nicht aus. Wenigstens etwas.
Flora bemerkte, dass sie alle sechs einen Schritt näher aufeinander zu getreten waren, selbst Alessia.
Nervös beobachteten sie die Gruppe, die sich noch immer leise besprach.
Flora zählte zwei Zentauren, einen Zwerg, zwei Faune und ein rotes Pferd, von dem sie überzeugt war, dass sich seine Nüstern soeben bewegt und Worte gebildet hatten, auch wenn sie keines verstanden hatte.
Ab und zu warf einer von ihnen einen kurzen Blick zu ihnen hinüber.
„Was geht hier vor sich?", flüsterte Ryan leise.
„Ich habe keine Ahnung..."
Remo betrachtete die Narnianen beunruhigt. „Aber irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Was sind das für Typen?"
Flora schüttelte nur den Kopf. Gleichzeitig fragte sie sich aber, wie viel sie würde sagen müssen. Alessia und Lili wussten immerhin, dass sie sich auch eine Zeitlang mit griechischen Sagen auseinander gesetzt hatte und gewisses Wissen über einige dieser Wesen hätte sie auch von dort haben können. Aber dann war sie schon bei der halben Wahrheit angelangt und Flora wusste, dass es selbst leichter war, eine Lüge aufrecht zu erhalten als eine halbe Wahrheit.
Und gab sie einmal ausführliche Antworten, wer sagte, dass die anderen sich nicht daran gewöhnten und fortan mit ihren Fragen immer zu ihr kamen?
Und Flora konnte sich nicht sicher sein, dass ihr nie etwas herausrutschen würde oder sie genau eine entscheidende Information zu viel geben würde.
Und wieder entschied sie sich dafür, zu schweigen.
Schliesslich schienen die Narnianen sich geeinigt zu haben. Deron trat auf sie zu. „Wir möchten euch bitten, mit uns nach Morell zu kommen. Unser König wird einige Fragen an euch haben."
Alessia sah unsicher die anderen an. „Was für Fragen?"
Deron scharrte mit einem Huf. „Bitte kommt einfach mit uns. Es wird euch nichts geschehen."
Flora zögerte einen Moment, dann traute sie sich zu fragen: „Wie heisst euer König?"
„König Darden", antwortete der andere Zentaur und Flora hörte einen respektvollen, bewundernden Unterklang in seiner Stimme, als er von seinem König sprach.
Flora überlegte. Der Name kam ihr nicht bekannt vor. Das konnte ein gutes Zeichen sein, musste es aber nicht.
Sie sah die anderen an. „Was meint ihr?"
Alessia zuckte mit ihren Schultern. „Ich schätze nicht, dass wir eine grosse Wahl haben." Sie beäugte die Waffen, die die Narnianen umgeschnallt hatten, wenn sie auch mit keiner Geste angedeutet hatten, sie im Falle einer Verweigerung zu benutzen.
Ric schluckte. „Da stimme ich Besserwisserin ausnahmsweise zu. Gegen die, was sie auch immer sein mögen, haben wir keine Chance."
Alessia funkelte ihn kurz an, wir anderen nickten bloss. Das hier war nicht der Zeitpunkt für Streitigkeiten, nicht in einem fremden Land mit einer Gruppe bewaffneter Narnianen, die uns beobachteten.
„In Ordnung, wir kommen mit." Flora sah, wie Alessia schluckte, obwohl sie sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen.
Deron nickte. „Wir kommen schneller voran, wenn ihr reitet. Schaffst du das?", fragte er den anderen Zentaur, der seinem Aussehen nach etwas älter war.
„Der Tag, an dem ich nicht mehr mit dir mithalten kann, Deron, ist der, an dem ihr mich begraben werdet." Der Zentaur gab Lili und Alessia, die ihm am nächsten waren, mit einer Kopfbewegung zu verstehen, aufzusitzen. Unbehaglich gehorchten die beiden. Das rote Pferd, kam währenddessen zu Flora getrappt. „Sitz nur auf, Mädchen."
Die anderen zuckten zusammen und Flora tat es ihnen schnell gleich. „Was, noch nie von einem sprechenden Pferd gehört?"
Doch, dachte Flora und griff nach der Mähne. Eben schon. Sorgsam zog sie sich hinauf. „Danke ...?", murmelte sie.
„Fuchsbrise." Er wiegte ein wenig von einem Bein auf das andere. „Einen kann ich noch tragen." Fuchsbrise sah erwartungsvoll zu den drei Jungen, von denen jedoch keiner den Anschein erweckte, als wollte er hinter Flora aufsteigen. Fuchsbrise schnaubte. „Kommt schon, ich beisse nicht und sie ganz sicher auch nicht."
Schliesslich, nach dem die drei einen Blick getauscht hatten, setzte sich Ryan in Bewegung und zog sich hinter Flora auf Fuchsbrise.
Danach ging es noch eine gefühlte Ewigkeit, bis die Narnianen Remo und Ric dazu überzeugt hatten, auf Derons Rücken zu setzten. Deron war sehr geduldig, aber eindeutig und auch wenn es den beiden ganz und gar zu widerstreben schien auf ein sprechendes Pferd mit menschlichem Oberkörper aufzusteigen, gaben sie schliesslich nach.
Dann machten sie sich endlich auf den Weg. Die beiden Faune liefen neben ihnen her, während der Zwerg ein eigenes Pony hatte.
Ryan zuckte hinter Flora bei jedem Schritt zusammen.
„Ist es so schlimm mit deiner Höhenangst?", fragte sie ihn.
Er nickte angespannt. „Komplett irrational, ich weiss. Als könnte mir beim Sturz von einem Pferd etwas passieren."
„Verzeihung mal", mischte sich Fuchsbrise ein. „Erst letztes Jahr hat sich ein Ritter des Königs das Genick gebrochen, als er von seinem Streitross stieg."
Ryan sah ihn entgeistert an.
„Das passiert bei mir natürlich nicht, ich bin viel intelligenter als ein gewöhnliches Pferd."
Flora konnte nicht anders als zu schmunzeln, was ihr aber glücklicherweise weder Fuchsbrise noch Ryan übel zu nehmen schienen.
Sie gingen weiter und trotz ihrer Situation konnte Flora nicht anders, als zu bemerken, wie unglaublich Narnia war. Da gab es Landschaftsabschnitte, die gewöhnlich aussahen und andere, die kaum magischer hätten sein können. Auch die Geschöpfe, die ihnen begegneten, waren so unterschiedlich wie es nur sein konnte. Phantastische Wesen standen neben gewöhnlichen Tieren und Bäume, die im vorbeireiten wisperten, neben stummen.
Als Flora sich umsah, sah sie, dass auch die anderen mit grossen Augen umherblickten und alles andere vergessen zu haben schienen. Selbst Ryan klagte nicht mehr über seine Höhenangst.
Doch die Narnianen, an denen sie vorbeikamen, wirkten nicht minder überrascht ab der sechs Menschen, die so gar in dieses Bild zu passen schienen und folgten ihnen mit ihren Augen.
Eine junge Frau, die ungewöhnlich zart und grazil wirkte, winkte ihnen beim Vorbeigehen zu. Flora war die einzige, die den Gruss schüchtern erwiederte, was ihr ein Lächeln einbrachte.
Doch es war das einzige Zeichen von Freude, das sie zu sehen bekamen.
Die meisten der Wesen wandten sich als sie vorüberwaren wieder still und ernst ihrer Arbeit zu. Ein angespannter Bann lag über der sonst so harmonischen Szenerie.
„Irgendetwas stimmt hier nicht", murmelte Flora Ryan so leise zu, dass Fuchsbrise sie nicht hören konnte.
Er runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf?"
„Ich weiss nicht." Flora biss sich auf die Lippe. „Nur so ein Gefühl."
Vor ihnen lichteten sich die letzten Ausläufer des Waldes und eine breite Ebene kam zum Vorschein.
Am Ende der Ebene stand auf einem Hügel ein eher kleineres Schloss. Die Zentauren und ihre Gefährten hielten darauf zu. Flora musterte das Schloss, während sie näher kamen. Es war schlicht, aber in einem unverkennbar narnianschen Stil gebaut, was Flora zu ihrer Überraschung ohne je Vergleichsmaterial gesehen zu haben erkennen konnte. Es war definitiv viel zu klein für Cair Paravel und auch sonst passte es auf keine Beschreibung, an die sie sich hätte erinnern können.
Das Tor war geschlossen, aber ein kurzer Ruf von Deron genügte, dass es sich öffnete.
Augenblicklich schnappte Flora geschockt nach Luft. Im Innenhof standen mehrere Personen, doch das war es nicht: In der Mitte des Hofes stand ein Baum.
Der Baum war gross und die Früchte, die er trug glänzten silbern.
Ryan sah sie an. „Was ist los, Flora?"
Aber sie reagierte nicht. Sie erkannte diesen Baum. Auch das hatte sie jedoch nicht erstaunt. Was sie entsetzt hatte, war, dass es beinahe keine Blätter mehr am Baum hatte. Dass die Früchte alt und nicht mehr einladend wirkten. Dass der Stamm vermodert und verfallen aussah; der Baum war am Sterben.
„Nichts", sagte sie zu Ryan, doch ihr Herz war kalt geworden. Jetzt wusste sie wo sie waren. Der Baum war Narnias Schutz. Ein Schutz, der nur Jahre währte und nicht fähig war, die Ewigkeit zu überstehen. Und diese Zeit war offensichtlich so gut wie vorbei.
Als sie das dachte, durchfuhr eine kalte Brise Floras Haar.
Es gab keinen Zweifel: Narnias Jugend war so gut wie vorbei und der Winter nahte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 17, 2018 ⏰

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