Kapitel 1

213 10 0
                                    

Es begann genauso wie es auch enden sollte: Mit Regen. An jenem Tag fiel der Regen in Strömen zur Erde und brachte seine kalte Nässe über alle, die sich ihr auszusetzen wagten. Das Wasser floss in Bächen über den Boden und die Schüler rannten, um ihnen auszuweichen. An solchen Tagen dauerten ihnen die Pausen zu lange und die Stunden waren zu kurz bei den Gebeten die die Schüler aussprachen, dass es aufhören möge. Die meisten Schüler hatten sich in den Gängen gedrängt, um nicht nass zu werden, nur drei Mädchen schmiegten sich unter dem dünnen Vorsprung am Rande des Platzes. Sie standen eng bei einander, um nicht nass zu werden und gaben sich gegenseitig Wärme und Schutz. Das erste Mädchen seufzte schwer. "Ich glaub, ich bekomm das nicht mehr hin." Das Mädchen neben ihr, das genau wie das erste gelesen hatte, klappte ihr Buch zu. "Du hättest es zu Hause lesen sollen!", tadelte sie sie gutmütig. "Nicht jeder liest so gerne wie du, Flora." Flora lächelte. Das stimmte. Sie liebte es zu lesen. "Das verlangt ja auch niemand von dir, Alessia." Alessia sah sie flehend an. "Ich schaffe es einfach nicht fertig! Kannst du mir nicht einfach sagen, wie es ausgeht?" "Was liest du überhaupt?", fragte das dritte Mädchen, das bisher still gewesen war. "Ben Hur, Kapitel 3" Das dritte Mädchen lachte. "Du bist erst da? Wir müssen in zehn Minuten fertig sein!" Alessia seufzte. "Ich weiss doch, Lili!" Sie wandte sich wieder an Flora. "Komm schon!" "Es wird dir nichts bringen, wenn ich es sage! Sie wird nicht so einfache Fragen stellen." Alessia stöhnte. "Ach, sei doch ruhig." Aber Flora wusste, dass Alessia es nicht halb so gemein meinte. Alessia mochte manchmal genauso mürrisch wie eine alte Eiche sein, aber sie hätte Flora und Lili niemals böswillig beleidigt. Die drei Freundinnen waren so verschieden wie Schwarz, Weiss und Rot, aber sie waren eine unzertrennbare Einheit. Alessia holte tief Luft, dann klappte sie ihr Buch zu. "Ach, es hat keinen Sinn. Lasst uns lieber über etwas anderes reden. Wie geht es bei dir, Lili?" Lili zuckte mit den Schultern. "Wie immer." Lili hatte kein eifaches Leben. Ihr Vater war schon früh von zu Hause weggegangen und ihre Mutter trank viel zu viel. "Es war schon schlimmer." Aber Flora sah, dass es ihr nicht gut ging. "Wenn etwas ist, kannst du jederzeit mit uns reden, das weisst du, oder?" Lili nickte schluckend. "Ehrlich gesagt ist es so, dass..." "Oh nein!", unterbrach Alessia sie stöhnend. Flora folgte ihrem Blick dann stöhnte sie ebenfalls. "Nicht die drei!" Drei Jungen hatten den Hof betreten. Das Wasser lief über ihre Haare und über ihre Gesichter, aber das schien sie nicht zu stören, im Gegenteil, lachten sie darüber. "Seht nicht zu ihnen, sie sind es nicht wert", murmelte Alessia. Flora klappte ihr Buch wieder auf. Sie war längst fertig mit Ben Hur. Stattdessen las sie nur zum Vergnügen "Die Chroniken von Narnia - Band eins". Die Chroniken von Narnia waren ihre Lieblingsbücher und sie hatte jeden einzelnen Band ein halbes Dutzend Mal verschlungen. Trotzdem las sie sie immer wieder gern. Floras Augen huschten über die Seiten, aber ausnahmsweise folgten ihre Gedanken ihnen nicht. Sie wusste, was kommen würde und sie hatte nicht die geringste Lust darauf. "Ach, hey Alessia! Hast du dieses blöde Buch immer noch nicht gelesen?" Alessia blickte von ihrem Buch auf und funkelte den Jungen, der gesprochen hatte, an. "Als ob ihr es gelesen hättet! Bist du dafür überhaupt intelligent genug, Remo? " Remo grinst den beiden Jungen neben sich zu. Sie grinsen zurück, als hätte Alessia soeben einen unfassbar komischen Witz gemacht, den aber nur sie drei verstehen konnten. Flora sah aus dem Augenwinkel, wie Alessia ihre Hände zu Fäusten ballte. Sie liess ihr Buch sinken, es hatte keinen Sinn. Flora wusste längst nicht mehr, wann sie begonnen hatten einander anzufeinden. Sie erinnerte sich nur noch an den Tag, an dem die ganze Situation eskaliert war. Es war an dem Tag gewesen, an dem Lili in die Klasse gekommen war. Flora war es sich damals gewöhnt gewesen, sich im Hintergrund zu halten und sich um keinen Preis einzumischen. Alessia war ganz anders gewesen: Sie hatte schon immer gesagt, was ihr durch den Kopf schoss und hatte keine Ungerechtigkeit lange ertragen. So verschieden sie auch gewesen waren, eines hatten sie gemeinsam gehabt: Sie waren allein gewesen. So waren sie trotzdem Freundinnen geworden. Als Lili damals gekommen war, hatten die beiden augenblicklich gesehen, dass sie ebenfalls mit der Einsamkeit zu kämpfen hatte. Deshalb hatte Alessia ihr auch geholfen, als Remo, Ric und Ryan sie wegen ihres Aussehens verspotteten (Ihre ganze Situation sah man ihr einfach an). Wahrscheinlich hatte es damals begonnen. Remo grinste Alessia weiter an. "Wir sind zu intelligent, um es zu lesen. Wir haben den Film gesehen." Alessia schnaubte. "Das sieht euch ähnlich." Flora liess ihren Blick über die drei schweifen. Remo und Ric hatten ihre Aufmerksamkeit auf Alessia gerichtet, aber Ryan bemerkte ihren Blick und lächelte sie überraschenderweise freundlich an. Überrascht und unsicher lächelte Flora zurück. "Du hast ja noch nicht einmal das hingebracht." Remo grinste spöttisch. "Also wie willst du uns da etwas vorwerfen?" Alessia schluckte. Flora wechselte einen besorgten Blick mit Lili. Sie wussten, dass Alessia im Moment Probleme zu Hause hatte, aber das würden sie Remo und seinen Freunden natürlich nicht erklären. Der Regen hatte zugenommen. Das Wasser trommelte laut auf das Dach des Schulgebäudes, so fliessend, dass Flora glaubte, eine Melodie wahrzunehmen, wenn sie sich nur genug darauf konzentrierte. "Ich werfe dir vor, was ich will!" Ric kicherte. "Halt den Mund!", fuhr Alessia ihn an. Selbst der Streit war in dem Geplätscher kaum zu vernehmen. Flora glaubte zu hören, wie die Melodie des Regens lauter wurde, aber das konnte nicht sein. Sie musste sich das alles nur einbilden. Sie blickte auf ihr Buch, das noch immer offen in ihren Händen lag. Bestürzt bemerkte Flora, dass die Seiten nass geworden waren. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen und bildeten einen Strudel. Die Melodie schwoll an. Remo und Alessia verstummten. Sie alle merkten, dass etwas nicht stimmte. "Was passiert hier!?", schrie Alessia über das Dröhnen, doch man verstand sie kaum. Der Strudel wurde immer grösser. Angst packte Flora und sie schleuderte das Buch von sich. Es blieb zwischen ihnen auf dem Boden liegen. Flora glaubte, in der Melodie das Brüllen eines Löwes zu hören. Und dann trat der Strudel aus dem Buch und verschluckte sie. Flora wurde schwarz und sie schloss die Augen.

Die Chroniken von Narnia - Die Prophezeiung von NarniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt