Die Sonne schien auf seinen Schreibtisch. Er drehte sich gemütlich auf seinem Bürostuhl hin und her. Das Schnitzel mit Pommes und der Joghurtdessert aus der Kantine lagen ihm noch im Magen. Langsam schlürfte er Kaffee aus seiner angelaufenen Tasse, die er einmal in der Woche am Freitag abspülte. Auf dem Bildschirm war sein Mail Programm geöffnet. Fett gedruckte Betreffzeilen von E-Mails, die zwischenzeitlich eingetroffen waren und er noch nicht durchgelesen hatte, starrten ihn erwartungsvoll an. Nach diesem reichhaltigen Mittagessen hatte er jedoch noch keinen Elan entwickeln können, anstrengende Anfragen zu beantworten oder sich sinnentleerte Bestätigungen durchzulesen. Aber worauf wartete er eigentlich? Er öffnete seinen Browser, las auf einer Nachrichtenseite von den neusten Weltereignissen, die ihm vorgaukelten, wesentlich für sein Leben zu sein, und streichelte dabei seinen Bauch. Er würde die Mails in einer Stunde lesen. Dieser Job tötete ihn. Er war einfach zu süß. Es gab keinen Stress und die Bezahlung war anständig. Niemand zöge ihn zur Rechenschaft, wenn er erst später antworten würde. Denn letztlich waren alle in diesem Laden ein wenig wie er. Zwar sagte ihm seine innere Stimme, dass es besser wäre, zu gehen, sich eine richtige Herausforderung zu suchen. Aber er war genügsam geworden und hatte seinen Biss verloren. Hier war alles so selbstverständlich und musste nicht in Frage gestellt werden. Es verhielt sich wie mit Löwen in einem Zoo, die wussten, dass irgendwann am Tag ein Tierpfleger vorbeikommen würde, um ihnen Riesenbrocken rohen Fleischs direkt vor ihre Schnauzen zu werfen, ohne dass sie zuvor jagen und sich anstrengen mussten. Sie brauchten sich um die Befriedigung ihrer unmittelbarsten Bedürfnisse nicht zu sorgen. Dafür mussten sie lediglich da sein. Und auch er musste nur anwesend sein und einigermaßen funktionieren, um in den Genuss der monatlichen Gehaltszahlungen zu kommen. Kam da noch etwas? Vielleicht fragten sich das auch die Löwen, wenn sie zum 56-ten Mal am Tag denselben Felsen in ihrem Schrebergarten großen Freilaufgehege runtersprangen.
Als junger Mann hatte er mal davon geträumt, sein eigenes Ding durchzuziehen. Ein Unternehmen zu gründen oder andernfalls auszuwandern, um an einem vergessenen Ort mit einem endlosen Sommer eine Bar zu eröffnen. Aber irgendwann nachdem er geheiratet, Kinder bekommen und in seinem Berufsleben einige fatale Entscheidungen getroffen hatte, hatte er einsehen müssen, dass sein Weg zum vermeintlichen Erfolg ihn in eine ereignislose Sackgasse geführt hatte. Und dass nunmehr auch die Bar auf einer sonnendurchtränkten Insel sehr weit weg war. Unbemerkt war er gealtert und er seine Zeit einer Menge spaßiger Phasen gewidmet, die nicht wirklich zielführend gewesen waren. Aber glücklicherweise hatte er eine liebe Frau gefunden, die ihm zwei wunderbare Kinder geschenkt hatte. Mit dem vollen Programm einschließlich der Zur Hilfestellung bei der Verrichtung der stündlich aufzukommen scheinenden Notdurft seiner Kleinkinder. Und da er Verantwortung für sie alle übernehmen musste und wollte, hatte er sich einen möglichst sicheren Job gesucht, weshalb er schließlich bei den lokalen Stadtwerken gelandet war. Nachdem er sich in der Kundenbetreuung bewährt hatte, war er ins Marketing versetzt worden, wo ihm kleinere Projekte und Kundenveranstaltungen zur eigenverantwortlichen Umsetzung anvertraut wurden. Der Job hatte keine Höhen und keine Tiefen. Nach dem ersten Jahr schien sich alles zu wiederholen. Tag der offenen Tür, Stadtlauf, Stadtfest. Es war wie bei einem Brettspiel, bei dem man stets auf einem Feld landete, das einen wieder zurück an den Start schickte. Er schien, über einen bestimmten Punkt einfach nicht hinauszukommen. Die Geburtstage und Verabschiedungen der Kollegen waren die erinnerungsträchtigsten Abwechslungen in diesem fortwährenden Kreislauf aus Stechuhr-ein und Stechuhr-aus. Da gab es Kuchen und Sekt. Und nach dem zweiten Sekt auch ein bisschen harmlose Büroerotik mit der Team-Assistentin. Wann war noch mal der nächste Geburtstag? Hatte nicht dieser Frank aus der Kommunikation nächste Woche Geburtstag? Vorfreude stieg in ihm auf. Dabei wollte er doch eigentlich etwas Anderes. Wollte er nicht ausbrechen, mal was Neues wagen statt dieser täglichen Langeweile? Während er über dieser Frage grübelte, klingelte das Telefon.
„Hallo." „Daniel, ich bin's, Henry. Hast du kurz eine Minute?" Klar, hatte er diese Minute. „Ja, was gibt's?" „Ich habe gerade ein super Angebot erhalten und wollte mit dir darüber sprechen. Ein alter Mann, den ich kenne, will gerade seinen Kiosk verkaufen, in der Nähe vom Hauptbahnhof im Rotlichtviertel. Top Lage. Wir könnten alles rausreißen und eine Bar reinbauen." Wieso sprach er von wir? „Ich kann das alles klären mit dem Architekten und den Ämtern. Aber mir fehlt leider die Kohle. Hast du Interesse?" Das war also das wir. Eine Bar im Rotlichtviertel? Klang auf jeden Fall cool und nach ein bisschen Abwechslung. Das Bahnhofsviertel war am Kommen. Immer mehr Bars und Clubs öffneten dort. Mit einer Bar konnte man sicherlich an den Wochenenden gut verdienen und auch während der Woche würde einiges abfallen. „Was soll der Spaß denn kosten?" „Mit Ablöse, Umbau und Pi Pa Po 50.000 Euro." Er musste kurz schlucken. 50.000 Euro. Wenn er alles zusammenkratzte, was er hatte, und ihren Familienvan gegen einen Kleinwagen eintauschen würde, hätte er vielleicht gerade so das Geld. Aber was würde seine Frau dann sagen? Sie nervte ihn schon seit Jahren mit diesem Wohnungsthema, das er bislang erfolgreich abwehren konnte. Aber wenn er ihr erzählen würde, dass er 50.000 Euro in eine Bar im Bahnhofsviertel investieren würde, statt diese Summe als Eigenkapital für einen Wohnungskauf zu verwenden, dann würde sie ihm im Falle des Scheiterns dieser Bar für den Rest ihres – und möglicherweise dann gar nicht mehr ganz so langen - gemeinsamen Lebens Vorhaltungen machen. „Wie soll das Ganze denn ablaufen?" „Ja, also die Kohle geht im Wesentlichen für den Umbau, Theke und Kühlung drauf. Dann müssen wir noch ein paar Waren kaufen. Insbesondere Getränke. Weißt du, Spirituosen für eine Bar sind ganz schön teuer. Da können wir nicht irgendsoeinen Scheiß vom Discounter servieren. Da müssen schon edle Tropfen stehen. Die Bar muss dann relativ schnell was abwerfen und Du und ich müssten auch dort arbeiten. Personalkosten gibt's erst mal nicht. Die Pacht mit allem ist knapp 1.500 Euro." Dort arbeiten? Er konnte sich schlecht vorstellen, wie er nach seinem Job jeden Abend noch in einer Bar stehen sollte. Was würde seine Frau dazu sagen, wenn er die Kinder vor dem Schlafengehen kaum noch sehen würde, weil Papa jetzt eine Bar im Rotlichtviertel betrieb? Es würde nur eine Frage von wenigen Jahren sein, bis seine Frau die Scheidung einreichen würde. Auf der anderen Seite würde er jederzeit Frauen in seiner Bar kennenlernen. Aber was wäre dann mit den Kindern? Fuck! „Ey, keine Ahnung, Mann. Investieren könnte ich mir irgendwie vorstellen, aber dort arbeiten. Das ist zu krass." „Was geht denn mit dir ab? Hast du mir nicht erst letzte Woche wieder das Ohr vollgeheult, dass dein Job oberlangweilig ist und du unbedingt was Neues brauchst?" „Ja, schon. Aber da habe ich nicht unbedingt an eine Bar im Rotlichtviertel gedacht." Aber hatte er überhaupt an was Konkretes gedacht? Oder doch nur rumgejammert und rumgemeckert, ohne zu wissen, was er wirklich wollte. „Ja, wolltest du jetzt so einen App Scheiß von mir hören, oder was? Ok, komm wir programmieren eine App, die dir sagt, wann du scheißen sollst." Henry hatte gut lachen. Ihm saßen nicht eine Frau und zwei immer hungriger werdende Mäuler im Nacken. Wenn er die Sache mit der Bar ernsthaft durchziehen wollte, musste er kündigen. All-In. Bei dem Gedanken spannte sich sein the dilf T-Shirt über seine Schultern. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er musste auf jeden Fall in etwa so viel rausbekommen wie jetzt. Seine Frau mit ihrem Halbtagsjob konnte nicht viel abfedern. Er rechnete kurz nach und es war klar, dass die Bar jeden Abend durchschnittlich einen ambitionierten Umsatz abwerfen musste, um Henry, ihn und eine baldige Aushilfe ausreichend zu entlohnen. Mit Gastronomie kannte er sich ein wenig aus, weil sein Vater und sein Onkel jahrelang ein Restaurant betrieben hatten. Er wusste, dass es möglich war, im Bahnhofsviertel dieses und noch mehr Geld zu verdienen. 1.500 Euro Miete für eine Bar in der Gegend war nicht teuer. Wenn das Viertel sich noch weiter entwickeln würde, dann würde nicht nur der Umsatz, sondern auch der Wert der Bar steigen. „Bis wann brauchst du Bescheid?" „Am Besten jetzt." War Henry bekloppt? Er konnte ja nicht innerhalb von fünf Minuten entscheiden, ob er seinen Job kündigen sollte, um eine Bar zu eröffnen. „Das geht nicht. Ich muss darüber nachdenken und zu Hause mit Lena sprechen." „Ja, ist ok. Verstehe ich. Sag mir bis morgen Bescheid." „Ok. Ich rufe dich spätestens morgen an." Nachdem er aufgelegt hatte, sah er für eine Weile aus dem Fenster. Auf einmal fühlte sich die zuvor bohrende Stille beruhigend an. Er bohrte in seiner Nase, während er nachdenklich aus dem Fenster starrte und schließlich begann, seine E-Mails zu lesen. „UPI Marketing Newsletter – How to achieve incredible success for your company and your clients".