Glaskugel

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Es waren nie wirklich die Bücher die mich in Buchläden rissen, es waren die immer der Läden selbst. Buchläden sind mit nichts zu vergleichen.
Zu einem ist da die Ruhe. Der gesamte Rest des Einkaufszentrums war eine einzige Geräuschquelle, aber der Buchladen war eine Glaskugel, leise und luftleer.
Dann der Geruch. Ich bildete mir ein, die Augen schließen zu können und jede weitere Person anhand ihres Aromas zu bestimmen, so deutlich hob sich jede Note von dem Parfüm aus Papier, Leim und Druckerschwärze ab. Alles war ein bunter Tupfen auf grauem Papier.
Aber das schönste waren immer die Regale. Sie zogen jeden Blick wie magnetisch an.
Man muss es mal ausprobieren: Steht man eine Weile vor einem Bücherregal, möglichst einem großen, unsortierten, so wird man unsichtbar.
Nicht nur für alle anderen, auch für einen selbst. Die Regale verschlingen auf irgendeine Weise das Licht.
Diese Bücherei hatte ein großes Regal, über dem ein Schild mit dem gravitätischen Wort "Gemischtes" lockte. Jeder Rücken war ein neues kleines Rätsel und eine der kleinen Stimmen irgendwo in meinem Verstand machte sich eifrig Notizen, während eine andere jedes einzelne leise vorlas. In Buchläden flüsterten selbst die Gedanken rücksichtsvoll.
Eine weitere gute Sache.
Geruch.
Wies mich ein Gedanke.
Der Geruch war da seit einer Weile. Ein dünnes Band aus Aromen von frischgemähtem Rasen und einer Winzigkeit Motoröl. Es war kein schlechter Geruch aber seine Quelle war mir recht nahe. Direkt neben dir.
Neben mir stand jemand. Das passierte selbst in Buchläden, das war der Mühe nicht wert den Blick vom Regal abzuwenden und meinen Schleier aus Buchrücken abzulegen, aber meine Finger fuhren in meine Jackentaschen und liebkosten zärtlich geschliffenen Stahl. Sanft rauschten die Gesänge der Klingen meinen Arm entlang und besänftigen rasende Gedanken. Früher hatte ich Messer bevorzugt, die sich einklappen ließen, die gelten als sicherer, aber ein Schutz für mich ist eine Knebel für die Klinge und nichts rächt sich schneller als eine gekränkte Klinge.

GERUCH! Schrillte der Gedanke und endlich drang zu mir hindurch. Neben mir stand jemand und zwar unbewegt. Kein Kopfdrehen um Bücher zu suchen, kein Wippen mit den Knien, kein Finger, der über die Buchrücken streicht, keine Bewegung, das war ungewöhnlich.
Ich versuchte nicht darauf aufmerksam zu sein, aber Gedanken sind tückische Biester.
Möglichst unauffällig ließ ich meinen Blick wandern, zu dem jemand neben mir. Dieser jemand war klein, kleiner als ich und ich hatte schon mit meiner Größe zu kämpfen. Ein Mädchen, kaum größer als ein Kind, aber ihr Gesicht war älter, auch wenn ich nie gut darin war, das Alter von Menschen zu erraten. Menschen waren schlicht zu unregelmäßig.
Das Mädchen stand komplett ruhig, den Blick schräg nach oben gerichtet, so dass ihre Haare nur ein kurzes Stück weit über ihre Schultern fielen.

Sie hatte sich wohl einst die Haare rot gefärbt, doch nun war ein helles, aber leicht schlammiges blond weitestgehend durchgewachsen. Nur die Spitzen erinnerten noch an überreife Mohnblüten.
So etwas war nicht allzu selten, das wäre eines Blickes nicht wert gewesen. Es war die Form der Haare, die herausstach. Obwohl sie nicht weiter als zu den Schultern reichten, verhielten sie sich nicht wie die Frisuren, die ich sonst kannte. Weder waren sie lockig, noch glatt, es war eher, als würde jede Strähne sich Mühe geben, immer ein paar Millimeter anders zu fallen, als alle anderen. Es sah aus, als hätte sie geduscht und wäre dann bei starkem Wind abwechselnd in verschiedene Richtungen gelaufen.
Ich blickte wieder ins Regal.
Sie bewegt sich nicht.
Wies mich ein unerzogener Gedanke hin und selbst aus den Messern klang ein zartes Vibrieren der Vorsicht.
Ich drehte mich wieder zu dem Gast, dieses Mal weniger unauffällig.
Dieses Mädchen schien jedoch keine Notiz von mir zu nehmen. Immer noch den Blick nach oben, stand sie da. Ohne zu denken machte ich einen Schritt zurück, als wäre ich in einem Museum und hätte vor Staunen einem interessanten Exponat dem Rücken zu gedreht bis ich daran gestoßen war.
Jetzt konnte ich auch sehen, was das Mädchen so interessierte. Im obersten Regal stand ein Buch. Es war ein Buch unter vielen, doch der Blick der jungen Dame war so starr und fixiert, dass es keinen Zweifel gab.
Sicherlich wollte sie dieses Buch, aber es stand definitiv außerhalb ihrer Reichweite. Vielleicht versuchte sie es solange anzustarren, bis ein größerer Kunde sie bemerkte und es ihr gab. Das hatte ich auch oft so gemacht und am liebsten hätte ich es ihr gegeben, aber auch ich hätte es selbst auf Zehenspitzen nicht einmal berühren können.
So? Sie ist schüchtern?
Dieser Gedanke klang nicht überzeugt, aber ich schenkte ihm kein Interesse, denn plötzlich erwachte sie aus ihrer Lethargie.
Ohne ihre Augen von dem Regal abzuwenden ging sie in die Knie, zog gleichzeitig auf beiden Seite ihre Schnürsenkel lose, streifte sich einer nach dem anderen ihre Schuhe von den Füßen und stellte beide ordentlich und perfekt symmetrisch an das Regal.
Dann streckte sie sich und verließ den Boden.
Ihr linker Fuß kam auf einem Regal auf, welches sich knapp über meiner Hüfthöhe befand, doch die Ballistik war stets eine treibende Kraft. Ihr rechter Fuß erreichte ein Regal auf meiner Schulterhöhe und dort, knapp unter der Decke des Ladens, schoss ihre Hand nach vorne, bevor sie wieder hinab fiel. Sie kam auf den Zehenspitzen auf, rollte ihre Füße bis auf die Ballen ab und ging in die Knie, auf diese Weise dämpfte sie den Stoß.
Ihre Hände umfassten das Buch.
Ich brauchte einen Augenblick um zu realisieren, was gerade passiert war. Ist dieses Mädchen gerade gesprungen? In einem Laden? Um ein Buch zu haben? Es war kein Geräusch zu hören gewesen, aber sie hielt das Buch in der Hand.
Beeindruckend. Ihr Blick wanderte durch den Laden, als wolle sie sicher gehen, dass ihr Kunststück ungesehen geblieben war, dann sah sie zur mir.
Ich musste genauso verblüfft dreinschauen, wie ich mich fühlte, denn sie grinste und legte einen Finger an ihre Lippen, dann hielt sie mir das Buch hin und flüsterte:
"Halt das, bitte!"
Ich griff zu, Immernoch mit dem Realisieren beschäftigt. Meine Gedanken waren schneller.
Was für ein Buch?
Das ging mich nichts an.
Wer ist sie?
Das geht mich nichts an.
Was macht sie da?
Sich die Schuhe anziehen.
Sie kam wieder hoch und riss mir das Buch aus den Händen.
"Danke!" flüsterte sie mit Ausrufezeichen. Ich nickte nur.
Dann machte sie einen Schritt nach vorn und trat auf einen ihrer immer noch offenen Schnürsenkel. Sie stolperte fast mitten in mich hinein, doch ich konnte sie noch auffangen.
Wieder zum stehen kommend zischte sie ein Fluch des Schmerzes.
"Vorsicht... " gelang es mir zu murmeln, doch sie war schon an mir vorbei gezischt.
Ich war verblüfft. Mein Kopf warf Echos, meine Gedanken schwiegen.
Dann begann einer zu lachen.
Wieso wusste ich nicht, doch es war mein Gedanke, er musste es mir mitteilen:
Schnell!
Habe ich begriffen.
Schlau!
Wie kommst du darauf?
Deine Hände.
Ich starrte drauf. Ich hatte sie aus meiner Tasche genommen.
Passiert dir sonst nie!
Ich tastete nach meinem Messer, es vibrierte so stark, dass es fast klingelte.
Sie hat etwas vergessen.
Ja, sich die Schuhe zu binden, deshalb ist sie ja auch gestolpert.
Wirklich? Warum hat sie sie dann nicht nach dem Stolpern zu gebunden?
Hatte es wohl eilig...
Und da stolpert man nicht?
Ich begriff langsam.
Wenn sie absichtlich gefallen wäre, hätte sie sich wohl kaum wehgetan. Sie ist scheinbar....
Dann ging ein Paukenschlag durch meinen Geist.
Ich holte das Messer aus der Tasche. Es wollte mir etwas sagen. Ich sah es. Auf der Klinge. Wenn ich in einem Film gewesen hätten, hätte wahrscheinlich ein Blutfleck an der Klinge geklebt, aber Blut braucht seine Zeit zum fließen und die Klinge war scharf. Alles, was sich mir zeigte war ein Halbkreis, so groß, wie eine kleine Fingerkuppe und mit einem Rand aus Fett, wie er hauchdünn auf menschlicher Haut vorkommt. Jeder hätte ihn übersehen können, aber ich kannte dieses Messer bereits zu gut.
Ich seufzte, zu amüsiert um wütend zu sein.
Sie ist schlau. Ja, sie ist schlau.
Schlau genug um aus dem Augenwinkel zu sehen, wohin man die Hand steckt.
Ich griff in meine Innentasche, holte mein Portemonnaie und ein Pflaster hervor. Wer ein Messer trägt, sollte auch ein Pflaster dabei haben.
Es war nicht schwer, den Weg des Mädchens nachzuvollziehen: So schnell wie möglich zum Ausgang, aber immer an den Regalen entlang, damit niemand aufmerksam wurde.
Das Buch lag schräg auf den Büchern in einem niedrigen Regal.
Woher weißt du, ob es das richtige ist?
Es hat einen roten Einband, ist in Eile ins Regal gestellt worden und hier ist ein Blutfleck, so frisch, er riecht noch nach Blut.
Praktisch.
"Ich würde gerne dieses Buch kaufen, aber es ist befleckt."
Die Frau an der Kasse überprüfte das.
Ich zeigte ihr meine Hände."Mein Blut ist das nicht."
Sie nickte und sagte: "Vielleicht haben wir noch eine Ausgabe. Wo stand es?"
Da, wo es immer nur eine Ausgabe gibt.
"Im Regal für Gemischtes."
"Dann haben wir keins mehr."
Ich weiß.
"Dafür zahle ich nicht. Schade"
Die Verkäuferin sah auf das Portemonnaie in meiner Hand.
"Wenn Sie wollen, kriegen Sie es für die Hälfte, wir müssten es sonst entsorgen."
Gut.
Ich zahlte und verließ den Laden.
Wohin jetzt?
Wo hält sie sich wohl auf?
Auf der selben Etage befand sich ein Schild. Es hatte kaum einen Reiz, war aber vielversprechend, denn es zeigte nichts außer zwei Buchstaben: WC.
Ich setzte mich auf eine Bank, von der aus ich die Tür unter dem Schild gut sah. Nichts funktioniert so gut wie Bücherregale, aber es gab noch eine Menge andere Methoden, für das menschliche Auge unsichtbar zu werden.
Lange warten musste ich nicht:
Wer auch immer dieses Mädchen war, sie konnte sich nicht so gut unsichtbar machen, wie ich. Sie ging zu betont langsam, als warte sie nur auf eine Möglichkeit weg zurennen und dass sie eine Hand verkrampft in der Hosentasche, war auch eher verdächtig. Ich beeilte mich hinter ihr her zu kommen. Sie hatte nur Augen für das, was vor ihr war, bis ich ihre Schulter antippte und sie herumwirbelte. Als sich mich erkannte, breitete sich Wut und Panik in ihrem Gesicht aus, als ich ihr das Buch hinhielt, schlug jedoch beides zu Verwirrung um.
"Das hast du vergessen!"
Sie starrte das Buch in meiner Hand an, aus dem das Pflaster wie ein Lesezeichen ragte.
"Ich wollte nichts kaufen, deshalb war mein Geld nicht in meiner Jackentasche."
Sie starrte mich an.
"Du wolltest mich bestehlen, aber nicht den Buchladen."
Sie starrte mich an.
"Du wolltest dieses Buch, so unbedingt."
Sie starrt dich an!
"Nimm es. Ein, zwei Tropfen Blut sind dieses Mal Bezahlung genug."
Sie starrte mich an, dann griff sie nach dem Buch, fest. Sie nahm es drehte sich um und rannte weg.
Ich sah ihr eine Weile nach.
Sie ist schnell.
Ja, das ist sie.
Sie hat geweint.
Ja.
Du bewunderst sie.
Ja.
Du beneidest sie
Ja.
Du wärst gerne, wie sie.
Nein.
Aha.
Ich sog Luft ein. Ein dünnes Band war noch da. Ein dünnes Band aus frischgemähtem Rasen und einer Winzigkeit Motoröl.
Ihr ähnelt euch kein bisschen.
Wir sind das selbe, wie beide.
Wir sind Fliegen in einer Glaskugel.

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