32. Kapitel

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Ich nickte nur und verschwand hastig aus der Tür hinter mir, um Andun zu wecken. Mein Puls raste. Übelkeit stieg in mir hoch. Ich wusste, dass es bei der blinden Wut Laos' nicht unwahrscheinlich war, dass wir eine Niederlage einstecken mussten. Niemand griff Lamis an, ohne zu verlieren. Aber genauso griff niemand Anor an, ohne zu verlieren. Und bis jetzt war glücklicherweise jeder König und jede Königin dieser beiden Länder klug genug gewesen, keinen Krieg mit dem jeweils anderen anzufangen. Meine Angst begann, sich in Wut umzuwandeln. Wut auf Laos. Bald wird die Gola di Spada mit tausenden von Leichen bedeckt sein. In jedem Volke Galads werden Menschen um die Verluste ihrer Geliebten trauern. Die Abwehrsysteme werden nach den Toden der Soldaten so geschwächt sein, dass sie Jahre brauchen werden, um sie wieder zu ihrer alten Stärke zu bringen. Frauen werden Witwen, Kinder verlieren ihren Vater.

Und wieso? Wieso? Weil ein König mit zu viel Macht und einer komplett verdrehten Weltanschauung meinte, einen Krieg zu starten, bei dem die Wahrscheinlichkeit bei 50% lag, zu gewinnen. Ja, man konnte sagen- Laos war definitiv ein verabscheuungswürdiger Mensch.

Einatmen. Ausatmen. Laos aus meinem Kopf verbannen.

Die edle Eichenholztür, die den Eingang zu Anduns Zimmer darstellte, tauchte hinter einer Ecke auf. Auch diesmal verzichtete ich auf das Anklopfen und trat ein. Andun hatte einen sehr tiefen Schlaf, sodass er von meinem Eintreten nicht wach wurde. Es gab tatsächlich nur eine Möglichkeit, ihn aufzuwecken. Mit einem Ruck zog ich seine Decke von dem Bett herunter auf den Boden. Andun setzte sich ruckartig auf und rief erschrocken: „Was is los?" Trotz der ernsten Situation konnte ich mir bei Anduns schlaftrunkener Stimme, die so klang, als ob er drei Flaschen Whiskey getrunken hätte, ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Als Andun erkannte, wer da überhaupt vor ihm stand, verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. Gerade öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, doch ich unterbrach ihn. Das hier war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, um zu diskutieren.

„Ein Mensch ist hier gewesen", berichtete ich so knapp wie möglich. „Sie werden in drei Tagen angreifen, in der Gola di Spada, und um so effektiv wie möglich vorzugehen, will dein Vater, dass du mit 30 Anderen die Pferde vorbereiten sollst. Beeil dich."

Bereits im jungen Alter wurde man gelehrt, wie man sich in nervenaufreibenden Situationen ganz auf seine Aufgabe fokussiert, um keinen Nervenzusammenbruch zu bekommen. Als kleines Kind schienen die damit verbundenen Übungen verschwendete Zeit. Aber mittlerweile? Mittlerweile hatte sich meine Meinung zu diesem Training stark geändert. Ich wusste, dass ich ohne jenes Training eine Situation wie diese, die momentan aussichtslos erschien, niemals hätte meistern können. Wenn ich nicht schon längst nach der Verkündigung eines Krieges verzweifelt wäre, dann spätestens, als Rhun mir die Organisation übertrug.

Ich fokussierte mich also auf meine Aufgabe und begann, kleineren Menschengruppen ihre Aufgaben zuzuweisen und sie zu bitten, die Anweisungen an jeden weiterzugeben, der ihnen über den Weg lief und unwissend schien. Nach erstaunlich kurzer Zeit wusste ganz Ithil Bescheid, inklusive der Verbündeten, die außerhalb der Stadt ihr Lager aufgeschlagen hatten. Niemand brach in Panik aus. Nicht einmal die Frauen, die zurückblieben, weinten, wie sie es sonst durchaus taten. Sowohl jede einzelne vorbereitende Handlung als auch jene in der tatsächlichen Kampfsituation war bis ins Detail besprochen und durchdacht worden. Dadurch waren zwei verschiedene Reaktionen hervorgerufen worden- die Einen fühlten sich durch den Plan in Sicherheit und begonnen, morgens zum Aufwecken (noch vor Sonnenaufgang, was ziemliche Folter war) irgendwelche hirnlosen Motivationssprüche (so nannten sie es) wie „Heute habe ich mir ein Frühstücksbrot gemacht und sogar das war anstrengender, als Anor zu besiegen!" durch die Fenster zu rufen. Und das war noch eins der harmlosen Beispiele.

Andere hingegen protestierten zwar nicht gegen die Pläne, wahrscheinlich weil ihnen selbst nichts Besseres einfiel, saßen aber tagein, tagaus in irgendeiner dunklen Ecke und schauten grimmig vor sich hin. Jeder, inklusive mir, vermied sie, da man bei den Blicken, die sie einem zuwarfen, das plötzliche Bedürfnis verspürte, sich freiwillig umzubringen, weil ein Tod durch Anor brutaler wäre. Bei einem bevorstehenden Kampf ist so ein Gefühl nicht produktiv.

Auch jetzt, wo der Krieg unweigerlich näher rückte, war offensichtlich, wer zu welcher Kategorie gehörte. Diejenigen, die motiviert waren, hatten diese leuchtenden Augen und ein siegessicheres Lächeln auf den Lippen. Dem Rest war ihr Ansehen bei ihrem Volk zu wichtig, um einfach nicht mitzukämpfen, sodass sie tatsächlich bei der Waffenkammer auftauchten. Sie alle rissen mir die Waffen aus den Händen und schauten mich an, als ob ich gerade ihr Todesurteil unterschrieben hätte.

Bei dieser Einstellung würde ich es ihnen gönnen, nach unserem Sieg einfach tot umzufallen. Dieser Gedanke brachte mir ein Lächeln auf die Lippen, das ich schnell zu verdrängen versuchte. Lachen war gerade ziemlich unangebracht.

Die Waffenkammer leerte sich schnell und schon bald befürchteten wir alle, dass die Waffen überhaupt nicht für uns alle reichen würden. Natürlich hatten viele unser Verbündeten ihre eigenen mitgebracht, aber die kleineren Dörfer, die uns helfen wollten, hatten lange nicht genügend Waffen. Sie hatten Rhun, als er sie empfangen hatte, mit einem verlegenen Blick angesehen und gefragt: „Ihr habt doch bestimmt noch Waffen für uns? Wir wurden noch nie wirklich angegriffen. Niemand interessiert sich für so kleine Völker."

Nachdem sie das gesagt hatten, hatten Perry und ich uns belustigt angesehen und versucht, nicht zu lachen. Rhun hingegen hatte sich nichts anmerken lassen und hatte einfach nur genickt.

Meine Sorgen waren zur Erleichterung Aller unbegründet. Die Waffen reichten für jeden. Es erstaunte und beeindruckte mich gleichzeitig, wie ruhig die Krieger im Ausblick auf den bevorstehenden Kampf blieben.

Obwohl sie wussten, dass die Chancen auf Überleben gering waren.

Obwohl sie wussten, wie stark die Silberne Armee war.

Obwohl sie wussten, wie skrupellos König Laos sein würde.



Die Chroniken der ElbentochterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt