EINS

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„Wir müssen hier weg, Ivy." Alex' sonst so kraftvolle, selbstbewusste Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Der Oktoberwind blies kalt und unbarmherzig, der Abendhimmel war in den unterschiedlichsten Orange- und Rotschattierungen eingefärbt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es dunkel war.

Die beiden Mädchen hatten sich an ihrem gewohnten Treffpunkt eingefunden: einem verwilderten und mittlerweile ungenutzten Spielplatz. Außer einem verwitterten Klettergerüst, an dem zwei marode Schaukeln angebracht waren, gab es hier nicht mehr viel. Die direkte Umgebung war dicht bewachsen, sodass sie vom Hauptweg, der durch den Park führte, nicht zu sehen waren.

Ivy saß im Schneidersitz auf dem kalten Boden, den Blick auf den hellen Kies gerichtet, mit hängenden Schultern. Ihr fehlte die Kraft, aufzusehen. Das schulterlange, blonde Haar war mittlerweile hoffnungslos zerzaust. Alex hockte neben ihr, die Hand hatte sie beruhigend auf den Rücken ihrer besten Freundin gelegt.

„Wo sollen wir denn hin?", wollte Ivy schließlich wissen. Sie war unglaublich müde, ihre Glieder fühlten sich seltsam betäubt an. Kaum zu fassen, wie sehr die letzten Ereignisse ihr schier alle Kräfte geraubt hatten.

Alex schien eine Weile nachzudenken. „Wir könnten versuchen, meinen Bruder zu finden.", schlug sie schließlich vor.

„Wie willst du denn zu ihm kommen? Er wohnt immerhin locker 50 Kilometer entfernt! Außerdem wissen wir doch gar nicht, ob er noch dort ist!" Ivy zwang sich nun doch, aufzusehen. Alex' Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen.

„Wir gehen zu Fuß. Es gibt keine andere Möglichkeit, das weißt du. Ich bin ganz sicher, dass wir ihn finden.", sagte sie. Als sie den zweifelnden Blick ihrer besten Freundin auffing, nahm sie ihr Gesicht in beide Hände und blickte ihr fest in die Augen. „Ivy, hör zu. Wir müssen uns zusammen reißen weil wir jetzt gerade verdammt nochmal keine Schwäche zeigen dürfen. Alles wird gut, okay? Ich pass auf dich auf. Versprochen."

Ivy zwang sich selbst zu einem Nicken. „Okay.", brachte sie kleinlaut hervor.

Kurz darauf hatten die beiden Mädchen eine Art Schlachtplan entworfen: sie würden sich in das örtliche Einkaufszentrum begeben, die nötige Ausrüstung im dortigen Outdoor-Geschäft besorgen und anschließend noch ein paar Dinge von zu Hause holen.

Als sie kurz darauf durch die ausgestorbenen Straßen liefen, fühlte Ivy, wie sie neue Kraft schöpfte. Ein Ziel vor Augen zu haben war genau das, was sie jetzt brauchte. Zumindest vertrieb es für den Moment die Hoffnungslosigkeit, die sich in ihr ausgebreitet hatte.

Am Einkaufszentrum angekommen verlangsamten sie ihre Schritte. Die Scheiben des Eingangsportals waren eingeschlagen, auf dem sonst so überfüllten Parkplatz lagen unzählige Dinge verstreut. Augenscheinlich waren einige Geschäfte schon geplündert worden. Zumindest teilweise. Weit und breit war jedoch niemand zu sehen.

Alex griff nach Ivy's Hand und wandte sich zu ihr um. „Wir gehen jetzt da rein. Versuch, ganz leise zu sein. Lass meine Hand nicht los. Okay?", flüsterte sie eindringlich. Ivy nickte stumm.

Dann liefen sie in leicht geduckter Haltung los. Glasscherben knirschten unter ihren Füßen, als sie sich ihren Weg nach drinnen bahnten. Die breiten Gänge, auf denen sich sonst shoppingfreudige Passanten tummelten lagen ausgestorben vor ihnen und waren nur spärlich beleuchtet. Ein Bild der Zerstörung bot sich ihnen: vor keinem Geschäft hatte die plündernde Meute Halt gemacht, überall lagen Glassplitter herum, Gegenstände waren wahllos auf dem Boden verstreut. In den ersten Seitengang, der sich zu ihrer Rechten erstreckte, bogen sie ein. Hier war das Outdoor-Geschäft. Alex ging voran. Darauf bedacht, sich nicht zu verletzen, kletterte sie durch die lädierte Scheibe der Eingangstür und deutete Ivy mit einem Winken an, es ihr gleich zu tun. Bereitwillig folgte sie ihrer besten Freundin.

„Komm." Alex zog Ivy hinter den Verkaufstresen, wo sich die beiden Mädchen in die Hocke begaben. Nur wenig Licht drang von draußen zu ihnen hinein. Kaum konnten sie einander erkennen. Ivy blinzelte einige Male in der Hoffnung, ihre Augen würden sich dann schneller an die Dunkelheit gewöhnen.

„Okay. Wir suchen uns jetzt ein paar Dinge zusammen, die wir früher oder später auf jeden Fall brauchen werden. Schlafsäcke, Taschenlampen und solchen Kram. Aber pack' nicht zu viel ein."

Ivy nickte nur. Gern hätte sie geantwortet, doch momentan wollte kein Laut ihre Kehle verlassen. Sie war wie betäubt und zwang sich, zu funktionieren, damit sie keine Last für Alex war.

Eine Weile durchsuchten sie schweigend das Geschäft und versteckten sich immer wieder wenn sie meinten, draußen im Gang jemanden gehört zu haben. Nach und nach trugen sie einige nützliche Gegenstände zusammen, die sie auf ihre Rucksäcke verteilten. Alex achtete besonders darauf, dass die Sachen einerseits leicht, andererseits aber auch kompakt waren. Nun zahlten sich die wochenlangen Wander- und Campingtouren, die sie in den Ferien mit ihren Eltern gemacht hatte, sich also endlich aus. Sie schien ganz genau zu wissen, worauf es ankam und auf welche Kleinigkeiten man besonders achten musste, was Ivy innerlich unheimlich beruhigte.

Irgendwann hatten sie ein Zelt gefunden, was Alex' hohen Ansprüchen genügte. Zudem hatte jede von ihnen einen geeigneten Schlafsack und Taschenlampen im Rucksack verstaut. Auch ein Erste-Hilfe-Set erachteten die beiden Mädchen als durchaus nützlich. Die Trinkflaschen wanderten in die dafür vorgesehenen Halterungen an der Außenseite des Rucksacks. Alles andere, was sie noch benötigen würden, wollten Alex und Ivy im Anschluss aus ihren jeweiligen Wohnungen holen gehen. In erster Linie wären das wohl die persönlichen Gegenstände. Beim Gedanken daran krampfte sich Ivy's Herz schmerzhaft zusammen. Für den Moment wollte sie gar nicht darüber nachdenken.

Mit einem Seufzen verschnürte Ivy ihren fertig gepackten Rucksack und blickte auf, direkt in Alex' bernsteinfarbene Augen. „Alles okay?", wollte diese wissen.

Ivy nickte. „Es ist nur..." Ja, was war eigentlich los? Bei dem Gedanken an den baldigen Aufbruch befiel sie ein unangenehm flaues Gefühl in der Magengegend.

Sie würden ihr zu Hause verlassen. Vermutlich für immer. Aber so, wie die Situation momentan war, gab es einfach keine andere Lösung. Hier war es zu gefährlich. Die Frage war nur: würde es denn an einem anderen Ort sicherer sein?

Alex' griff nach der Hand ihrer besten Freundin und drückte sie zaghaft. „Es wird alles gut.", versprach sie mit sanfter Stimme.

Ivy nickte und hätte ihr gerne geglaubt, wäre da nicht dieser Zweifel in ihrer Stimme gewesen. Noch konnte sie sich das selbst nur schwerlich vorstellen, nach allem, was sie durchgemacht hatten. Nach all den Verlusten, die sie erlitten hatten. Unglaublich, in welcher Geschwindigkeit ihr Leben aus den Fugen geraten war.

Noch einmal spähte Alex über die Ladentheke des Outdoor-Geschäftes. Ein paar Schatten huschten an der ramponierten Ladentür vorbei und so zog sie schnell den Kopf wieder ein. „Lass uns noch ein wenig hier warten und Kräfte sammeln, bevor wir aufbrechen.", schlug sie an Ivy gewandt vor.

„Okay." Die Müdigkeit und Erschöpfung in ihren Gliedern war in den letzten Tagen zu einem ständigen Begleiter geworden und manchmal, wie zum Beispiel jetzt, machten sie sich ganz besonders bemerkbar, sodass sie froh über eine Pause war. Seufzend setzte sie sich und lehnte den Rücken an die sonnengelb gestrichene Wand in ihrem Versteck. Die Beine zog sie fest an den Körper, die Stirn ruhte auf den Knien, die Hände legte sie auf den Füßen ab. Sie spürte, wie Alex neben ihr Platz nahm. Die Wärme ihres Körpers gab ihr ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit. Ihre beste Freundin. Ihr Fels in der Brandung. Die einzige Familie, die sie noch hatte.

Wie hatte es nur so weit kommen können?

Ivy schloss die Augen und sofort spielten sich die Bilder der letzten Wochen vor ihrem geistigen Auge noch einmal ab. Erst wollte sie sich dagegen wehren, ankämpfen. Letztlich ließ sie es aber doch zu...

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