ZWEI

31 2 1
                                    

„Hatschi!", Ivy's Mutter gab neben ihr auf dem Sofa einen lauten Nieser von sich. Sie kramte ein Taschentuch aus der Tasche ihres kirschroten Cardigans hervor und putzte sich geräuschvoll die Nase. „Gesundheit.", nuschelte Ivy und wandte den Blick vom Fernseher nicht ab.

Normalerweise war sie mit ihren fünfzehn Jahren nicht sonderlich an den Nachrichten interessiert, aber das war anders. Es lief einfach auf jedem Sender. Ohne Unterlass. So etwas konnte man nicht ignorieren, selbst, wenn man es gewollt hätte.

Der Nachrichtensprecher trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine besonders hässlich gemusterte Krawatte, fand Ivy. Sein braunes, graumeliertes Haar war ordentlich frisiert und sein Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck angenommen. Ob der immer so schaute? Wahrscheinlich. Sicher war das ein Einstellungskriterium, um bei den großen Sendern einen Job als Nachrichtensprecher zu bekommen: man musste einen permanent ernst-besorgten Gesichtsausdruck haben. Egal, welche Nachrichten man vorlas. „Die Friedensverhandlungen sind bislang ergebnislos geblieben. Seit heute ist das neue iPhone auf dem Markt. Neue Rüstungsexporte sind genehmigt worden. Im Zoo wurde heute ein Pandababy geboren. In China ist schon wieder ein Sack Reis umgefallen." Für einen Moment musste Ivy über ihre Gedanken grinsen. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie diesem mürrischen Typen in der letzten Zeit zugehört hatte, der täglich neue Details der aktuellen Situation verlas. Durch den Flüchtlingsstrom aus dem Nahen Osten, der sich geradezu über Europa ergoss, gab es täglich etwas zu berichten und mit jedem Mal schien die Lage bedrückender zu werden. Ivy hörte mittlerweile gar nicht mehr richtig hin. Je öfter sie darüber nachdachte, umso trauriger machte sie die ganze Situation. Nicht einmal ansatzweise konnte sie sich vorstellen, wie schlecht es diesen vom Schicksal gebeutelten Menschen gehen musste. Manchmal versuchte sie sich auszumalen, wie sie sich fühlen würde, wenn sie und ihre Eltern die Heimat, ihre gewohnte Umgebung, ihre Familie, ihre Freunde verlassen und Angst um ihr Leben haben müssten. Jedes Mal kam sie dabei zu dem gleichen Schluss: es war einfach unvorstellbar. Immer wieder, wenn ihre Gedanken um dieses Thema kreisten, war sie einfach nur froh in einem Land zu leben, das nicht von Krieg und Terror zerrüttet war und sie sich nur mit ihren typischen Teenager-Problemen herumschlagen musste.

„Oh Gott.", hörte sie plötzlich ihre Mutter neben sich flüstern. Verwirrt blickte Ivy zu ihr, doch sie wandte den Blick nicht vom Bildschirm des Fernsehers ab. Nun hatte der mürrische Nachrichtensprecher ihre Aufmerksamkeit zurückerlangt. „Aktuellen Berichten zufolge wurden nun schon mehrere Flüchtlingsheime in verschiedenen Teilen Europas unter Quarantäne gestellt. Ein besonders ansteckender Virus, der grippeähnliche Symptome verursacht, scheint dafür verantwortlich zu sein. Die Ärzte arbeiten unter Hochdruck, um die angespannte Lage unter Kontrolle zu bekommen.

Bislang konnte noch nicht geklärt werden, aus welcher Region das Virus stammt. Expertenteams wurden mit der Entwicklung eines Impfstoffes beauftragt. Mehr oder weniger sicher lässt sich jedoch sagen, dass die europaweite Verbreitung durch den Flüchtlingsstrom begünstigt wurde. Die Grenzen werden nun wieder stärker kontrolliert, sodass alle Menschen, bei denen sich Symptome zeigen sofort in spezielle Quarantänelager gebracht werden können. Aus Sicherheitsgründen wurde außerdem der Flug- und öffentliche Personennah- sowie Fernverkehr innerhalb Europas vorerst eingeschränkt, bis sich eine Besserung der Lage eingestellt hat."

Ivy wandte sich erneut ihrer Mutter zu. Innerlich hatte sie alle Mühe, das eben Gehörte zu verarbeiten. „Mum, müssen wir uns Sorgen machen?", wollte sie wissen. Der Nachrichtensprecher hieß gerade einen Arzt willkommen, der ihm im nun folgenden Programm ein paar Fragen zu der aktuellen Thematik beantworten sollte.

Ihre Mutter schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Ach was. Du hast doch gehört, dass schon spezielle Maßnahmen getroffen wurden. Bestimmt ist es auch gar nicht so schlimm, wie es jetzt im ersten Moment klingt. In unserer Stadt gibt es doch außerdem gar keine Flüchtlingsunterkunft." Ivy hätte ihr gerne geglaubt, wäre da nicht dieses verräterische Blitzen in ihren grauen Augen gewesen. Ihre Mutter war sehr wohl besorgt, was ja auch verständlich war. Dunkel konnte sich Ivy erinnern, dass vor kurzem zumindest in der Nachbarstadt ein Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in einer Turnhalle eingerichtet worden war. Ob das auch unter Quarantäne stand?

VirusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt