Das Kronos-Projekt Teil 4

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Ich erkannte Details aus meiner Recherche imInternet wieder.
Rost fraß an den Excentern. Die ehemalskupfernen Ableitschienen waren grün angelaufen. Darüber schien dieLuft in wabernder Bewegung zu sein. Oder war dies der Effekt, den dieRaum-Zeit-Verkrümmung verursachte?
Die lichtabsorbierendeTeer-Lithium-Beschichtung, mit welcher der Wagon ursprünglichbestrichen worden war, blätterte an vielen Stellen ab. Darunterentluden sich kleine, blaue Blitze. Der Ursprung des Leuchtens, dasder Erscheinung vorausgegangen war.

Dann schloss sich der Schleier lautlos unddie Entschleunigungsbahn verschwand hinter dem Ereignishorizont.
Ichblieb verstört und allein in der Finsternis zurück, denn dieLeuchtschilder in der unmittelbaren Umgebung, waren durch dasPhänomen beschädigt worden und erloschen.
Ich stand da,zitternd, eingehüllt von der absoluten Schwärze des Erdinneren, underinnerte mich an alles, was ich während meiner Recherche zumKronos-Projekt gelesen hatte.

Der Start des Experimentes lässt sich indas Jahr 1926 datieren. Ort des Geschehens war ein Tunnelsegment derBerliner U-Bahn, welches kurz nach dem Versuchsbeginn versiegeltwurde.
Das Experiment sollte über eine Zeitdauer von zehn Jahrenlaufen, während für die Probanden nur etwa eine Stunde verging. ImInnern des Wagons saßen die Testpersonen an eigens dafür montiertenTischen. Zum Zeitvertreib hatte man ihnen Karten und Brettspielemitgegeben. Man stellte Getränke zur Verfügung, aber keineLebensmittel.
Es war nicht vorgesehen, dass die Probanden Einflussauf das Experiment nehmen konnten. Alle Fenster waren vergittert, dieTür nur von außen zu betätigen. Der Personenraum selbst entspracheinem zweiten faradayschen Käfig, was einem hermetisch versiegeltenGefängnis gleichkam.
Die Selbstverständlichkeit, mit der dieWissenschaftler vom Erfolg des Unterfangens ausgingen, stieß michheftig ab.
Zur Verständigung mit der Außenwelt befand sichlediglich ein Tonbandgerät in dem Abteil. In den ersten Minuten nachdem Start waren noch artikulierte Laute vernehmbar, doch späterkonnte man nur noch, mittels komplexer Tonbeschleunigungsverfahren,verzerrte Lebenszeichen empfangen.
Dann verschwand dieEntschleunigungsbahn.
Man vermutete einen optischen Effekt hinterdem Phänomen und arbeitete weiter wie geplant, aber der Krieg unddie Inflation sorgten dafür, dass das Projekt vor Beendigung desVersuchs eingestellt wurde. Unterlagen gingen verloren, Zeitzeugenstarben. Die Versuchspersonen galten als verschollen bzw. tot. Doches kann durchaus sein, dass sie im Innern der Bahn bis heute überlebthaben.

Acht Menschen, die, in der Zeit verlangsamt,in einem winzigen Bahnabteil sitzen, ohne Kontakt zur Außenwelt.Acht Menschen, die seit 1926 an einem Experiment teilnehmen, an dassich heute niemand mehr erinnert.
Sollte das Projekt erfolgreichgewesen sein und die Probanden noch wohlauf, dann wären für sieseit Beginn des Versuchs etwas mehr als sechs Stunden vergangen. FünfStunden mehr als ursprünglich ausgemacht.
Wie mochten sie daraufwohl reagiert haben, als sie feststellten, dass das Tonband nichtmehr zur Verständigung taugt und die ausgemachte Zeitspanneüberschritten ist?
Würden sie panisch werden?Klaustrophobisch?
Würden sie versuchen, mit Kronkorken derGetränkeflaschen die Fenstergitter zu bearbeiten, in der Hoffnung,sich irgendwie befreien zu können?
Wer würde sie sonstbefreien?
Wer könnte sie befreien?

Ein ungewisses Schicksal trägt sie immerweiter in die Zukunft, auf einer versiegelten Strecke zwischenRathaus Steglitz und Schlossstraße.
Und ausgerechnet mir musstedie verfluchte Entschleunigungsbahn erscheinen, mir, dem Verfechterder Wissenschaft, dem logisch Denkenden.
Ich war ein Narr gewesen!Stoßen Logik und Vernunft nicht allzu oft an ihre Grenzen?
BeiSchrödingers Katze! Gibt es nicht noch genug Rätsel in derWissenschaft, die wir lösen müssen, bevor wir uns in der Weltsicher fühlen dürfen? Ich bezweifele, dass dieser Tag je kommenmag. Einzig Unwissenheit ist die Antwort. Nur ungebildete Unwissendekönnen den Frieden empfinden, der mir auf ewig versagt bleibenwird.
Denn ich weiß jetzt, dass alles wahr ist.
Ich alleinkenne den Grund, warum Nacht für Nacht die unbescholtenen BürgerBerlins von einem Knall geweckt, aus dem Schlaf gerissen werden!
Ichwerde niemals wieder einen Fuß in die Hauptstadt setzen, und ichweigere mich, jemals wieder mit einer Bahn zu fahren.
Wer kannschon mit Gewissheit sagen, was zu unseren Füßen unter der Stadtvor sich geht? Welche geheimen Experimente und Versuche instillgelegten Tunneln und Stollen unter uns weiter existieren, obwohldie Wissenschaftler, die sie ins Leben riefen, längst zu Staubzerfallen sind.
Wieviele Versuchspersonen, verloren und vergessen,in geheimen Kammern unter der Erde für die Wissenschaft getestetwerden, obwohl niemand mehr da ist, ihre Ergebnisse zunotieren.
Nein, ich wage nicht, mir das auszumalen! Zu schrecklichwar der Anblick der Entschleunigungsbahn in jener Nacht, alleine inden U-Bahntunneln. Das grausame, metallische Kreischen verfolgt michim Schlaf. Ich sehe den verfluchten Wagon auf seinem vorgeschriebenenWeg unendlich langsam vorankriechen.
Beladen mit acht Menschen,die dazu verdammt sind zu warten, bis jemand kommt und sie befreit.

Hier endet mein Bericht. Der Leser dieserZeilen mag selbst entscheiden, ob ich nur das Opfer meiner Einbildunggeworden bin oder tatsächlich etwas gesehen habe. das besser nichtexistieren sollte. Ich rate davon ab. eigene Nachforschungen in derSache anzustrengen, denn mich haben die Erkenntnisse in einebedauerliche Lage gebracht.

Was aus dem Bekannten geworden ist, der soweit vorausgelaufen war, weiß ich nicht. Ich habe ihn nie wiedergesehen und ich möchte mir vorstellen, dass er die HaltestelleSchlosspark wohlbehalten erreichte, eine Weile auf mich wartete undunverrichteter Dinge nach Hause ging. Dass ihm etwas zugestoßen seinkönnte, wage ich nicht zu denken.

Ebenso habe ich keine Ahnung, welcheAbsichten jenen Künstler bewegten, dieses grauenhafte Objektnachzubauen und mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.Die Möglichkeiten für eine Recherche stehen mir leider nicht mehrzur Verfügung. Vielleicht ist das auch besser so. Ich weiß bereitsgenug, und dieses Wissen ist mir nicht gut bekommen.

Ich wurde erst am nächsten Morgen von einemGleisarbeiter der Frühschicht gefunden. Man erzählte mir, ich hättevöllig verdreckt und unterkühlt, mit weit aufgerissenen Augen, ineiner gemauerten Nische neben den Gleisen gehockt und diegegenüberliegende Wand angestarrt. Ich sei nicht ansprechbargewesen, und man entschied nach kurzer Beratung, dass ich wohl ineiner Psychiatrie am besten aufgehoben wäre.

Man hilft mir hier tatsächlich, die Ärztesind freundlich, die Pfleger zuvorkommend. Ich erhalte Tabletten, diemir das Einschlafen erleichtern sollen, aber der Schlaf liefert michmeinen Alpträumen aus.
Ich fühle mein logisches Denken schwindenund die Vernunft entgleitet mir, vor allem in den trübenAbendstunden. Es ist unerheblich, ob mein Zustand durch ein realesErlebnis oder eine Sinnesverwirrung verursacht wurde.
Das Grauenist real. Jedes Mal, wenn eine Tür in den Angeln quietscht oder einFenster im Wind zuschlägt, sehe ich dieses Bild vor mir.
Ichwünschte, sie würden sich weniger um mich kümmern.
Ichwünschte, sie würden mich in Ruhe lassen, dann könnte ich all demein Ende setzen.
Ich halte dieses Bild in meinem Kopf nicht mehraus! Diese Vorstellung von acht Menschen, die in Panik gegen dieWände ihres Gefängnisses hämmern, unwissend, dass sie in einemversiegelten Tunnel, tief unter der Erde und verborgen hinter demEreignishorizont, niemand je hören wird.

Creepypasta | OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt