Kapitel 1: Sternenklare Nacht

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Ein vorsichtiger Blick nach links und rechts. Niemand in Sicht. Das fahle Licht der Notausgangslampe taucht den Flur in ein unheimliches Grün, dass man sonst nur aus der Geisterbahn kennt. Langsam schleicht Ruby den Gang entlang, immer auf der Hut. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen, darauf bedacht, keinen Mucks zu erzeugen.

   So oft schon ist sie hier entlang gegangen. Die Bilder ziehen an ihr vorbei; viele Leute auf einem Haufen, alle so verbunden und doch so in ihrer Welt gefangen. Oder geblieben?

   Ruby schüttelt den Kopf. Jetzt nur nicht ablenken lassen. Behalte einfach nur dein Ziel vor Augen. Erstmal aber geht es nur darum, aus diesem Haus zu kommen, oder "Verdammte Dreckshölle" wie sie es immer nennt.

   Mittlerweile ist sie am Ende des Flurs angelangt. Der ekelhafte Geruch des Mittagessens hängt noch in der Luft, ein Gericht, das sie schon viel zu oft verspeisen musste, denn es riecht exakt so wie es schmeckt. Ruby wird schlecht, die Aufregung und der Gestank sind zu viel für sie. Angewidert schüttelt sie den Kopf, was jedoch nicht so eine schlaue Idee ist, denn der Schwindel lässt nicht lange auf sich warten. Einen Moment verschnaufen. Sie lehnt sich vorsichtig an die Tür, die sie durchqueren will. Ist das wirklich eine gute Idee? Diesen Gedanken verwirft sie jedoch gleich wieder. Denn nichts wäre schlimmer für sie als hierbleiben zu müssen. Sie will sich nicht noch drei Jahre von der schrulligen Mrs Adams, ihrerseits scheintot, herumkommandieren lassen. Sie hat sowieso nie ein gutes Haar an Ruby gelassen, da wird es sie eher freuen ihr Lieblingskind nicht mehr sehen zu müssen.

   Jetzt weiter. Ruby stößt sich von der Tür ab und dreht sich, leider etwas zu laut. Erschrocken bleibt sie stehen, hält die Luft an und horcht. Keine Schritte, Glück gehabt. Noch vorsichtiger als zuvor bewegt sie sich und öffnet die Tür zum Treppenhaus. Am liebsten würde sie jetzt rennen, einfach hinunter rennen so schnell sie kann um von hier zu verschwinden, doch sie mahnt sich selbst zur Vorsicht. Jederzeit könnte ihr Vorhaben ein Ende finden, wenn sie entdeckt wird. Dabei hat sie die letzten Wochen nichts anderes getan als das hier zu planen. Jeder Weg, jeder Handgriff, fast schon jeden Schritt den sie geht ist akribisch vorbereitet und überlegt.

   Also langsam, einen Fuß vor den anderen. Es scheint eine halbe Ewigkeit zu vergehen, bis die Eingangshalle mit der großen Glastür sich vor ihr erstreckt. Bitte sei offen, flehte sie, bitte. Noch einmal vorsichtig nach links und rechts geblickt, schreitet sie geräuschlos auf die Tür zu, die Pforte zur Freiheit. Jedoch ist sie hier komplett ungeschützt, es gibt keine Verstecke weit und breit. Jederzeit könnte sie entdeckt werden, was ihr ein mulmiges Gefühl bereitet. Doch niemand ist zu hören, nicht einmal das Licht im Saal ist angeknipst. Insgesamt scheint sich der Weg zwar eher zu verlängern als zu verkürzen, aber irgendwann ist die Tür doch erreicht. Wie gut, dass sie sich mit dem Hausmeister so gut verstand. Es war ein leichtes, ihm den Schlüssel abzunehmen ohne bemerkt zu werden. Den Schlüssel wird sie aber nicht mitnehmen, sondern der lieben Mrs Adams auf dem Silbertablett servieren. Dann sieht sie, wie gut ihre Erziehungsmethoden funktioniert haben.

   Angespannt, ängstlich aber auch erwartungsvoll drückt sie die Tür nach dem Aufschließen auf. Glücklicherweise hatte der Hausmeister das Schloss gerade geölt, sonst hätte man sie spätestens hier entdeckt. Doch nichts kommt ihr in die Quere.

   Ruby tritt aus dem Haus und blickt in die sternenklare Nacht hinauf.

Ruby's ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt