Kapitel 2: Ein erwachsener Taschendieb

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Vorsichtig schließt Ruby die Tür, der größte Teil ist zwar geschafft, jedoch ist die Gefahr noch nicht ganz vorüber. Mit schnellen und präzisieren Schritten schleicht sie über die Wiese zur alten Eiche hin. Hier hat sie wohl die meiste Zeit der letzten Jahre verbracht, wenn sie nicht gerade in der Schule war. In Erinnerungen versunken betrachtet sie die sich im leichten Wind bewegenden Äste. Äste, die sie wahrscheinlich schon mehrere hundert Male benutzte, um in die Baumkrone zu gelangen. Ein Ast dort hat die perfekte Form, um sich an einem schönen Tag dorthin zu setzen und ungestört ein Buch zu lesen. Doch die Zeit ist knapp, deshalb besinnt sie sich eines Besseren, als den Baum weiterhin verträumt anzustarren.

   Gleich neben der Eiche ist ein dichtes Gebüsch, gerade dicht genug um es als Versteck zu gebrauchen. Gestern deponierte Ruby ordentlich ein silbernes Tablett zwischen den Zweigen. Jetzt zerrt sie heraus und bindet eine Schnur an den einen Henkel. Das andere Ende wirft sie über einen Ast und knotet es dann an die andere Seite des Tabletts. Fein säuberlich platziert sie den Schlüssel darauf, das Tablett schwingt leicht hin und her und reflektiert das Licht der Sterne. Mrs Adams wird sich bestimmt über mein Abschiedsgeschenk freuen.

   Ein kurzer Blick zurück auf das Haus, in dem sie die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hat, dann dreht Ruby sich um und marschiert davon. Wie viel leichter die Entdeckung des Lochs im Zaun ihr Vorhaben doch machte. Noch nie hatte sie so viel Glück, vor allem nicht auf einmal. Doch irgendwie scheint das Schicksal ihr in die Hände zu spielen, als wollte es, dass sie genau das tat, was sie jetzt tut.

   Kein Licht brennt im Haus, die Luft ist rein. Ruby nimmt ihren Rucksack ab, schiebt ihn unter der Lücke im Zaun hindurch und sich selbst mit einer eleganten Bewegung hinterher. Sie greift nach ihrem Rucksack und rennt den Weg entlang. Einfach nur renne, ihre Gedanken sind leer, aber sie braucht die Geschwindigkeit. Mit jedem Meter, den sie sich von dem Haus entfernt, fühlt sie sich freier. Auch wenn ihre Beine durch das Rennen mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken schmerzen, ist sie glücklich, so glücklich wie schon lange nicht mehr.

   Wenige Minuten und sehr viele Herzschläge später erreicht sie die Hauptstraße. Noch zwei Blocks, dann... Da ist es! Sie steht vor einem Mehrfamilienhaus, das leicht heruntergekommen aussieht. Doch nicht das ist ihr nächstes Ziel, sondern das kleine alte schwarze Auto, das davor steht. Dieses Auto gehört Wayne, ein Freund von Ruby, wahrscheinlich ihr einziger. Er hat eine Weile in der Kantine ausgeholfen, aus der der ekelerregende Geruch kam. Sie verstanden sich auf Anhieb und Wayne vertraute ihr viel an.

   Umso schlechter fühlt sie sich jetzt. Wayne war immer nett zu ihr, und jetzt bestiehlt sie ihn. Ruby zieht eine Haarnadel aus der Jackentasche und fummelt im Schloss des Autos herum, bis ein Klicken ertönt. Tut mir schrecklich leid, Wayne. Präzise durchsucht sie das Fach auf der Beifahrerseite und wie erwartet hat ihr Freund den Zweitschlüssel dort versteckt. Einerseits freut sie sich diesen gefunden zu haben, aber an ihrem schlechten Gewissen tut das auch nichts. Ich muss das tun. Wayne weiß, wie ich mich fühle und wird das verstehen. Das muss er.

   Deshalb setzt sie ihren Rucksack ab, wirft ihn schwungvoll auf die Rückbank und setzt sich ins Auto. Leise schließt sie die Tür, der Schlüssel dreht sich im Zündschloss. Der Wagen springt an, Benzin ist auch mehr als genug vorhanden, der Ersatzkanister ist im Kofferraum, das hatte Wayne erzählt. Noch ein zaghafter, absuchender Blick und Ruby fährt los.

   Weg von hier, von den Problemen, von allem. Hier wird sie nie frei sein, das weiß sie, aber wenn sie nicht frei ist, wird sie auch niemals glücklich sein.

Ruby's ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt