One Shot #3

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"Verflucht Michelle schau dir diese Scheiße an!", rufe ich verärgert. Vor mir erstreckt sich der mittelgroße Lagerraum des Lazaretts. Doch von einem Lagerraum kann man nicht mehr wirklich sprechen. Die Kisten liegen teils verteilt auf dem Boden, teils stehen sie leer im Regal. Es sieht aus als hätte eine Bombe hier eingeschlagen. Ein Seufzen kommt über meine Lippen, als mir die wahrheitsgetreue Ironie dieses Satzes bewusst wird. Schnell binde ich mir meine dunkelblonden Locken auf meinem Hinterkopf zu einem Knoten zusammen. Wie ich hier aussehe interessiert sowieso niemanden. Unter meinen Fingernägeln klebt der Dreck vermischt mit Blut. Auch meine Arbeitskleidung ist geprägt von den Massen an Blut, die hier überall präsent sind.

"Mensch Lisa wo bleibst du mit den Medikamenten?! Mir sterben da drüben die Patienten unter den Händen weg", schnaubt meine Partnerin erbost und betritt den Raum, verstummt dann aber zunächst für einige Sekunden. Sie schaut sich in dem Chaos um, was sich hier vor uns erstreckt. "Was ist denn hier passiert?!", gibt sie erschrocken von sich. Ihre Augen sind vor Schreck weit aufgerissen. Beinahe schon hilflos zucke ich mit den Schultern. "Meinst du nicht, dass ich es dir schon gesagt hätte, wenn ich es wüsste?!", gebe ich ebenso genervt zurück. Ich knie mich auf den Boden und versuche irgendwie die verbliebenen Medikamentenreste zusammenzusuchen. Michelle sucht inzwischen die Kisten in den Regalen ab. "Na super", ruft sie nach einiger Zeit aus, "die Schmerzmittel sind fast komplett weg. Mit dem Bisschen Jodtinktur und Zinksalbe können wir doch nicht das gesamte Lazarett versorgen. Wir haben da draußen mindestens 100 Männer und Frauen liegen, 20 davon liegen jetzt schon im Sterben und wir stehen hier mit leeren Händen!". Erschöpft lässt sie sich auf den Boden sinken und ich lege meine Hände in meinen Schoß. "Das sind ganz alleine die da oben Schuld, ganz genau diejenigen, die an der Macht sind. Groß Kriege planen, ja das bekommen sie hin. Aber was mit uns passiert interessiert sie doch in keinster Weise. Was erwarten sie von uns? Das wir Wunder vollbringen? Einem Mann einfach mal wieder sein verlorenes Bein annähen? Wie kann man so gewissenslos sein Michelle? Ich versteh es nicht!".

Sie schüttelt nur den Kopf. Die letzten Tage haben uns allen einen Großteil unserer Kräfte geraubt. Zwei der Schwestern sind an Krankheiten gestorben, Berufsrisiko hier wie man sicher verstehen kann. Wir sind unterbesetzt und haben nun nicht mal mehr genügend Medikamente vor Ort. Wir beide schweigen nun nur noch während wir den Lagerraum aufräumen. Wir schweigen generell immer. Es ist als würde jedes einzelne Wort schmerzen. Als wäre unser Körper selbst zum Reden zu erschöpft.

Als wir den Krankentrakt des Lazaretts wieder betreten dringt uns das schwere Atmen und die Schmerzenslaute der Männer und Frauen entgegen. Ich schaue Michelle an, versuche in ihrem Blick einen Rat zu finden. "Und jetzt? Was sollen wir tun?", spricht sie in dem Moment die Frage aus, die ich mir bereits innerlich gestellt habe. "Ich würde sagen wir versuchen zu retten, was zu retten ist.", sage ich schulterzuckend. Michelle schaut mich ungläubig an. "Ohne Medikamente? Wir sind keine Magier!", erwidert sie immer noch mit Misstrauen. Ich erinnere mich an meinen Stiefvater, der damals mit den einfachsten Mitteln Menschen gerettet hat. Allerdings sind die einfachsten Mittel meistens nicht die angenehmsten. "Vertrau mir. Wir machen es auf die altmodische Art und Weise.", gebe ich nur von mir und streife mir Handschuhe über. Michelle höre ich nur seufzen. Sie weiß genau wie ich, dass wir sowieso nicht alle retten können.

Der Rest des Tages verläuft beinahe schon zu ruhig. Die neuen Patienten die hier her kommen haben lediglich oberflächliche Verletzungen, die wir schnell verbunden haben. Dennoch haben wir einen Todesfall bisher. Der Mann hatte eine Blutvergiftung entwickelt und ohne die entzündungshemmenden Medikamente konnten wir nichts mehr für ihn tun. Ich denke an die zahlreichen Ehefrauen zuhause, die in Unwissen über den Verbleib ihrer Verwandten leben müssen. Bei jedem Toten frage ich mich ob er Familie hatte. Hatte er Kinder? Eine Frau? Und ich möchte mir nicht ausmalen wie schmerzhaft es für die Frauen ist den Brief zu öffnen, der ihnen mitteilt, dass ihr Mann oder Vater im Krieg gefallen ist.

Es ist später Abend als plötzlich laute Stimmen zu hören sind. "Ist hier irgendwo ein Arzt? Schnell, wir brauchen dringend einen Arzt!", erklingt eine ältere Männerstimme, bevor diese mit einem anderen Mann das Lazarett betritt. Sie tragen auf einer Trage einen Mann. Er liegt zusammengekrümmt auf der Seite und scheint nach Luft zu ringen. Auch das ständige Husten scheint ihm schwer zu fallen. "Legen sie ihn hier ab", rufe ich den Männern zu und zeige auf eine freie Liege. Mir ist auch so schon klar was er hat, dennoch überprüfe ich seine Atmung genauer indem ich seine Lunge abhöre. Sofort erhärtet sich der Verdacht. "Michelle! Ich möchte, dass du mir genau zuhörst. Ich brauche ein Skalpell, irgendetwas schlauchartiges und Tupfer. Sehr viele Tupfer.", rufe ich ihr zu. Sie sieht mich erschrocken an. "Lisa, was hast du vor? Du bist keine Oberärztin! Du bringst den Mann noch um.", erwidert sie und ihre Stimme zittert. Doch ich habe keine Zeit mit ihr zu diskutieren. "Verdammt Michelle, beweg dich jetzt und hol mir Sachen sonst ist der Mann gleich definitiv tot!", herrsche ich sie an und sie verschwindet im Lagerraum.

In der Zwischenzeit bereite ich alles weitere vor. Ich ziehe dem Mann sein Oberteil aus, sodass seine rechte Seite frei liegt. Dann wende ich mich an die Männer, die ihn hergebracht haben. "Sie müssen dafür sorgen, dass er auf der linken Seite liegen bleibt. Das hier wird jetzt schmerzhaft". Die beiden nicken und knien sich neben ihren Freund und halten ihn fest. Kurz darauf kommt Michelle mit den Sachen wieder. Ich atme einmal kurz tief ein und aus bevor ich das Skalpell in die Hand nehme und an der richtigen Position an seinem Brustkorb ansetze. Meine Hand zittert nicht, das tut sie nie. Auch nicht als ich den Schnitt setze. Das Blut quillt aus der Wunde heraus und der Mann beginnt zu wimmern. Michelle hält mir den Schlauch hin und ich führe in ein um seinen Lungenkollaps zu lösen. Doch es kommt keine Luft aus dem Schlauch wie es eigentlich sein sollte sondern Blut. Und in dem Moment wird mir klar, dass er innere Blutungen haben muss. Und das bedeutet, dass wir nichts mehr für ihn tun können. "Was ist los?", fragt Michelle als sie meinen Blick sieht. Ich schüttel nur leicht den Kopf. Sie versteht mein Zeichen sofort und bittet die anderen Männer das Lazarett zu verlassen, was diese letztlich auch tun. "Wir können nichts mehr für ihn tun, zumindest nicht hier", murmele ich als Michelle beginnt die Utensilien weg zu räumen.

Auch 10 Minuten später sitze ich noch neben ihm und halte seine Hand. Ich möchte nicht, dass er alleine ist, wenn er stirbt. Ich baue normalerweise nie eine emotionale Bindung zu jemanden auf, aber ich habe Mitleid für ihn. Es dauert nicht mehr lange, dann hebt sich seine Brust zitternd das letzte Mal. Der Ausdruck aus seinen Augen verschwindet und sein Muskeln entspannen sich. Ich schließe ihm seine Augen und dann fällt mir das Namensschild auf, was an seiner Uniform hängt. Und in dem Moment wünsche ich mir, dass ich es niemals gefunden hätte. In dem Moment kann ich alle trauernden Frauen verstehen. In meinen Armen ist gerade mein Bruder gestorben, der vor über einem Jahr verschwand.

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