„Hallo? Hören Sie mich? Ja? Super. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich. Ich bin Markus und arbeite für das Meinungsinstitut Winterheim... Hallo? Hallo!" Ein mittelalter, mittelgroßer Mann auf einem breitgesessenen Bürostuhl mit Rollen fährt sich krampfhaft durch die übrigen, wild umherfliegenden Haare. Krachend landet die Hand wieder auf dem mit Papieren, Kaffeebechern und Essensresten zugemüllten Schreibtisch. Kramt nach einem noch halbvollen recycelbaren Pappbecher mit kaltem Kaffee. Während der Mann sein Headset mit der anderen Hand richtet und das Mikrofon nach einem tiefen Schluck wieder an den Mund biegt, vernimmt er die Hallos und Hätten-Sie-ein-paar-Minuten-Zeit-für-michs aus den umliegenden grauen Büroboxen, welche auf dem ganzen Stockwerk in Reihen aneinandergedrängt stehen.
„Auf ein Neues", murmelt er bekümmert und wählt die nächste Nummer. Atmet tief durch und „Einen schönen Nachmittag, mein Name ist Markus und ich frage mich, ob Sie wohl die Güte hätten, ein paar Fragen zu beantworten? Ja, das freut mich. Also, dann wollen wir mal", beginnt er mit vor Honig triefender Stimme, "Ihre Kreditkartenfirma hat uns beauftragt herauszufinden, wie zufrieden Sie mit eben jener sind. Wie lange sind Sie schon K..." „Wie bitte? Die haben euch meine Nummer weitergegeben? Tschüss, da hab ich jetzt Besseres zu tun!", brüllt es aus der Muschel am Ohr und es folgt das ihm nur zu vertraute Geräusch des Auflegens.
Noch fünf Minuten, schwirrt es durch seinen Kopf, dann ist es für heute rum. Ein schweres Seufzen rasselt durch seinen Kummerkasten, als er erkennt, dass er sein heutiges Soll an ausgefüllten Fragebögen nicht erreicht hat. Zehn fehlen noch. Selbst, wenn jede der verbleibenden Nummern noch bereit ist, mit ihm zu sprechen, der Fragebogen dauert, selbst im Schnelldurchlauf, mindestens fünf Minuten pro Person.
Er rollt auf dem alten Lederbürostuhl aus seiner Box, rücklings findet er sich auf einem mit Alibi-Grün dekorierten Gang wieder. Allein. Darauf hatte er gehofft. Nach einem erneuten Vergewissern, dass ihm keiner über die Schultern schaut, rollt er zurück, greift nach der Maus und beginnt eifrig zu klicken. Die Fragebögen sind Gott sei Dank nur Multiplechoice, mehr scheint es den Konzern wohl nicht zu interessieren, was seine Kunden denken. „Ha!", entfährt es ihm, „doch noch geschafft!"
Ein Telefonkabel rast über seinen Kopf und schlägt mit einem Knall auf seine Brust. Ruckartig spannt es sich über seine Arme nach hinten und schneidet sich ins Fleisch. „Na, was hast du diesmal angestellt, Markus?" Im Griff der Würgeschlange Telefonkabel realisiert der Angesprochene nur langsam. Er windet sich, doch das Kabel schneidet nur tiefer ins Fleisch. „Lass... Lass mich los Spencer! Das tut weh!" „Wimmer nicht!", herrscht ihn ein 30-jähriger Mann im Anzug an. „Nun sag schon, was war das!" Vom Brüllen angelockt steigen mehr und mehr Mitkollegen aus ihren Boxen und nähern sich der Szenerie. „Nichts... nichts hab ich getan!", kommt es empört vom Mann im Stuhl, welcher nun versucht, sich zu erheben. „Lüg doch nicht! Ich hab's genau gesehen. Du hast die Bögen ausgefüllt und zwar ohne zu telefonieren!", kommt es arrogant zurück und mit einem Ruck landet Markus zurück auf dem Stuhl, welcher nach unten sackt. „Dir ist klar, was jetzt passiert! Ich melde es. Denen oben" „Hey, komm schon. Sind wir doch ehrlich, von uns hat das doch jeder schon gemacht" „Schwachsinn!" Alle Umstehenden wenden ihren Blick ab. „Leute, ich bin hier schon lange, länger als die meisten von euch. Glaubst du, ihr, wirklich, dass es die Kunden interessiert, ob wir alle anrufen? DAS ist Schwachsinn. Ich mach der Firma sogar einen Gefallen, weniger Telefonkosten, mehr Zeitersparnis, somit mehr Aufträge und damit mehr Profit." Einige Umstehende nicken zustimmend. Ob das an der Woge an Mut lag, die den Gefesselten übermannte oder an dem eben Suggerierten, sei in den Raum gestellt. Langsam beugt sich der großgewachsene Anzugträger herunter und flüstert mit bedrohlicher Stimme: „Das mag sein. Doch die Firmenleitung wird das nie, niemals zugeben. Am Ende wollen doch alle den Schein wahren. Genau deshalb wirst du das Exempel sein, welches alle anderen abschrecken soll. Und ich, ich sage dann endlich diesem Stockwerk Adiós." Er muss ihn nicht einmal sehen, um zu wissen, dass Spencer, dieser von sich überzeugte Neuling, selbstgefällig lächelt. Mit einem deprimierten resignierten Lachen, mehr zu sich selbst als zu den Umstehenden: „Es geht also nur um dich!" „WAS! Was war das." Die Menge zuckt zusammen. Der Stuhl wird herumgewirbelt. Ein, bis zum Spiegeln polierter, Budapester knallt zwischen Markus Oberschenkel auf die Sitzfläche und rammt ihn samt Stuhl, mit der Lehne an die Tischkante. Gegen das Erwarten der Menge und Markus lösen sich seine Fesseln nicht. Es ist nun sogar noch schlimmer. Jetzt, da seine nach hinten verdrehten Arme, mit voller Gewalt gegen die Tischkante drücken, schmerzt es nur noch mehr.
„Machst du dich lustig, über mich? Dir werde ich Manieren beibringen" Er kramt auf dem Tisch nach einem Becher, schüttelt ihn, lächelt zufrieden und hebt ihn bedrohlich über Markus Kopf. Einige Personen aus der umstehenden Menge packen eilig ihre Sachen und bewegen sich Richtung Aufzug. Die übrigen blicken sich belustigt an. „Eine Sauerei dein Schreibtisch und wir wissen, was eine Sau tut, sie suhlt sich im Dreck!" Unter einem Blick, der nichts als Verachtung zeigt, kippt er den Kaffee auf den gefesselten, verzweifelt dreinblickenden Mann. „Sag schonmal tschüss zu deinem Saustall!" Die Augen funkelnd vor diebischer Freude, greift er erneut auf den Tisch. Diesmal zieht er Überreste eines Brotes zwischen den Papieren hervor, verreibt es auf dem Gesicht und wischt sich dann die Hand angeekelt an dem, mit brauner Flüssigkeit verunstalteten, Hemd ab. Er fischt einen blauen Kugelschreiber aus dem Becher mit Schreibutensilien. Unter Tränen, vor Schmerzen windend, bricht es aus Markus heraus: „Warum quälst du mich so?" Der Peiniger unterbricht seine lustlose Suche nach weiteren Werkzeugen der Demütigung und schaut auf. „Ich brauch den Job! Ich muss Unterhalt zahlen! Ich brauch den Bonus für die Weihnachtsgeschenke meiner Kinder." „Als ob du je den Bonus abstauben würdest. Deine Kinder sind mit Sicherheit besser dran ohne einen Versager wie dich.", kommt es schnaubend zurück. Unmut breitet sich unter den Dagebliebenen aus. Mit bedrohlich funkelnden Blick unterbindet er das aufkommende Gemurmel: „Was habt ihr denn jetzt, nur weil er seine Kinder erwähnt, habt ihr schon genug. Seht ihn euch doch an, so ein Dinosaurier wie der da ist immer noch hier bei euch auf dem Stockwerk. Der muss ein Verlierer sein!" „HAST DU KEIN HERZ!", brüllt ihm Markus inbrünstig entgegen. Eine Ader an Spencers Schläfe beginnt stärker zu pulsieren, er wird rot vor Zorn, greift ganz langsam in die Innentasche seines Jacketts und zieht ein Taschentuch hervor. Mit diesem wischt er sich zitternd über sein Gesicht, welches bei Markus Ausbruch Spucke abbekommen hatte. „Das. War. Ein. Fehler", presst der zornrote Mann zwischen den Zähnen raus. Er holt aus. Schlägt zu. Tief in die Magengrube. Markus bäumt sich auf und spuckt aus. Als er gerade wieder ausholt, schallen kräftige Männerstimmen herüber, unter ihnen auch eine aufgebrachte Frauenstimme. Die um den Arbeitsplatz versammelte Traube löst sich auf, jeder scheint sich auf etwas anderes zu konzentrieren. „Was ist denn hier los?", donnert es von einem schrankgroßen Sicherheitsmann, als er den Mann im Anzug mit erhobener Faust über einen am Bürostuhl gefesselten Mann sieht, dessen Hemd von Kaffee verunstaltet und Gesicht mit Aufstrich beschmiert ist. Die Frau, welche zwischen den Sicherheitsmännern wild gestikulierte, scheint Tanja zu sein. Sie sitzt in der Schuhkastenreihe ihm gegenüber.
Panik ist Spencer ins Gesicht geschrieben. Erleichterung bei Markus. Als die zwei Schränke näherkommen, spannen sich Spencers Muskeln immer mehr. Mit einem Ruck drehte er sich um und sprintete davon. Einer der Wachmänner lief um drei Arbeitsplätze herum und hob ihn von den Beinen. Während dieser Fesseln anlegt, werden Markus' vom Anderen gelöst. „Danke", kommt es von dem entkräfteten Mann im Stuhl. Irgendwoher hatte Tanja ein Handtuch aufgetrieben und reicht es dem noch immer perplexen Markus.
Nachdem die Polizei dazugekommen ist und die Anzeige wegen Körperverletzung aufgegeben, kam der Sicherheitsmann noch einmal auf den, am Boden sitzenden und mit dem Rücken an der Wand lehnenden Mann, zu. „Sie kümmern sich um ihn?", fragt er an Tanja gewandt. „Ja", erwidert diese, bestärkt durch ein leichtes, aber dennoch bestimmtes Nicken. „Ich mache den Job schon eine Weile, aber das... Das war. Schlimm." Er geht in die Hocke, schüttelt den Kopf, dann klopft Markus auf die Schulter. „Kopf hoch!" Hände reibend erhebt sich der, ganz in Schwarz gekleidete, Sicherheitsmann und geht, noch immer aufgewühlt, den Gang entlang. Einige Zeit später, als er bereits nicht mehr zu sehen war, erhebt Markus das Wort. In die Leere starrend, fragt er: „Wie konntest du Hilfe holen, du warst doch schon weg?" „Das hast du mitbekommen?" Ein schwaches Nicken. „Aber ja, du hast schon Recht. Ich habe meine Uhr vergessen; dass ich sie hier oben hab liegen lassen, habe ich erst gemerkt, als ich bereits im Auto saß. Auf dem Stockwerk angekommen, habe ich gesehen, wie der Idiot sich über dich gebeugt hat." „Und dann bist du zum Sicherheitsdienst", schloss Markus die Erzählung ab. „Genau", bestätigt Tanja. „Danke" Sie sitzen noch eine Weile in Stille, dann steht er, unter Anstrengungen, auf und geht, ohne ein Wort zu sagen, davon. Irritiert richtet sich nun auch Tanja auf und sieht, dass Markus bereits auf der anderen Seite der Schreibtische ist. Er kommt in ihre Richtung. Ungefähr auf ihrer Höhe angekommen, greift er auf einen der Schreibtische und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen präsentiert er eine kleine, rechteckige Frauenarmbanduhr mit rosé-goldenem Metallgehäuse und Lederarmband. „Nicht, dass du die hier noch einmal liegen lässt", kommt es über die kleine graue Trennwand zu ihr herüber. Tanja erwidert: „Stimmt. Da wir jetzt auch meine Uhr haben, können wir ja jetzt aufbrechen" „Gerne" „Der Tag war schon lang genug."
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General FictionGewalt am Arbeitsplatz. Leistungsdruck. Ein Callcenter-Angestellter wird von seinem Kollegen in eine psychisch aufreibende Position gebracht. Nicht in der Lage, sich gegen diesen zu behaupten, wird er immer weiter gedemütigt. ### Diese Geschichte is...