¶ [Kapitel 1] - Out of the dark

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"Ich gehe nicht da rein!" Lotta verschränkte ihre mageren Arme und schaute verbissen aus dem Fenster.
Die großen weißen Mauern wirkten für sie, wie ein Gefängnis. Darin sollte sie wieder gesund werden. Gesund werden, obwohl sie nicht einmal krank war. Zumindest nicht in ihren Augen.

Wenn ihre Mutter sie ansah, dann war sie magersüchtig. Angeblich war sie nur noch ein "Knochengerüst" und sie würde sie ins Heim bringen, wenn sie nicht endlich zunahm. Ihr war klar, dass das eine ziemliche Belastung für ihre Mutter gewesen sein musste, aber warum lies sie Lotta dann nicht einfach in Ruhe?

Sie blickte auf das kleine Holzkreuz, das ihr ihr Vater geschenkt hatte, bevor er starb. "Wenn ich nicht mehr da bin, dann wird Gott auf dich aufpassen", hatte er gesagt und lächelte unter Tränen. Er starb an Lungenkrebs. Viel zu lang hatte er sich gequält und diese schlimmen Tage erleben müssen. Lotta konnte das nie mit ansehen, weshalb sie es manchmal nicht einmal über das Herz brachte, ihn im Krankenhaus zu besuchen.

Sie schaffte es nicht, ihn so kraftlos zu sehen, wo er doch früher immer so stark war. Nur Lotta war die Einzige, die die Fehler beging. Bis heute bereute sie es, nicht bei ihm gewesen zu sein, als er von der Erde ging. Sie macht sich unglaubliche Vorwürfe, nicht stark genug gewesen zu sein.

Vorsichtig schob sie den Ärmel ihres grauen, verwaschenen Sweatshirts nach oben und betrachtete die lange Schnittwunde an ihrem Arm. Durch den Schmerz, den sie sich immer wieder selbst zufügte, spürte sie wenigstens einen Hauch von Gerechtigkeit.

"Lotta, wenn du jetzt nicht da rein gehst, dann weißt du, was passiert. Ich schaffe das nicht mehr!" Ihre Mutter drehte vorwurfsvoll den Kopf in ihre Richtung und seufzte auf. Seit ihr Mann gestorben war, lies sie niemanden mehr an sich heran und auch Lotta musste zurückstecken.

Zumal sie nicht ihre leibliche Mutter war. Sie wollte eigentlich nie Kinder und hatte dem Ganzen nur, wegen ihrem Vater zugestimmt. Als Lotta zehn Jahre alt war, hatte sie das einmal in einen Streitgespräch von ihren Eltern gehört. Das zerbrach ihr das Herz und von da an war ihr Verhältnis ziemlich gespalten.

"Was interessiert es dich überhaupt? Du wolltest mich doch eh nie und jetzt ist Papa tot! Warum hast du mich noch nicht weggeschickt?!" Lotta schrie ihre "Mutter", die sie schon lange nur noch Sarah nannte unter Tränen an. Sie wollte nicht da hinein. Um keinen Preis der Welt. Zu Hunderten, die psychisch krank waren und nicht mit ihrem Leben klar kommen. Sie war nicht krank, sie wollte nur verstanden werden.

"Lotta, jetzt fang nicht schon wieder damit an." Sarah verdrehte genervt die Augen und starrte auf diese Irrenanstalt. "Du hast doch keine Ahnung! Von Nichts!"

Enttäuscht riss sie die Autotür auf und rannte los. Hinter sich schallte noch die Stimme ihrer Mutter, aber sie konnte - und wollte nichts verstehen.

Ahnungslos rannte sie durch das nasse Gras und der Regen trommelte auf ihren Kopf ein. In Sekunden war ihre Kleidung komplett durchnässt, der graue Pullover hing wie ein nasser Sack an ihr dran. Aber es war ihr egal. Sie spürte keine Kälte, schon lange nicht mehr. Ihr Herz war schon seit Monaten kalt und leer, das machte keinen Unterschied mehr.

Die dunklen Strähnen fielen ihr tief ins Gesicht, was ihre Sicht umso mehr erschwerte. Als sie irgendwann die Kräfte verließen, stoppte sie und sah auf. Erst jetzt spürte sie, dass sie bitterlich weinte und sich ihre salzigen Tränen mit dem Regen vermischten. Sie wollte und konnte nicht mehr.

Egal, wie oft sie sich herum drehte, keine Straße, kein Auto, kein Mensch. Einzig und allein ein großes, leeres Feld zog sich um sie herum und lies sie klein erscheinen. Klein, das war sie schon lange.

Out of the dark [Michael Patrick Kelly]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt