¶ [Kapitel 3] - Please help me

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Damit war sie wieder allein. Dieser Paddy ging mit seinem Hund davon und drehte sich auch nicht noch einmal um. Lotta wollte niemanden an sich heranlassen. Warum auch? Was sollte das bringen?

Die Menschen kämen eh wieder nur mit ihren Sprüchen. "Das wird schon wieder. Der Schmerz ist nur anfangs so schlimm, du lernst damit umzugehen." Das wollte sie nicht hören, von niemanden.

"Danke, Papa", flüsterte sie und drückte sich das Bild fest an die Brust. Sie war froh, in dieser kalten Nacht nicht umgekommen zu sein. Ihre Hände waren zwar dunkelblau von der Kälte und sie spürte diese kaum noch, aber sie lebte.

Trotzdem wusste sie, dass sie es nicht mehr lange schaffen würde, wenn sie Tag und Nacht in dieser Kälte verbrachte. Lotta würde sich erkälten und womöglich an den Folgen sterben. Und wenn das nicht der Fall war, dann erfror oder verhungerte sie sicherlich.

Mit ihren tauben Fingern wischte sie sich die kalten Tränen von den Wangen und steckte das Bild zurück in ihre Tasche. Von Weitem drang eine schrille Frauenstimme in ihr Ohr und, als diese näher kam verstand sie auch, was sie rief. "Lotta, wo bist du?"

Die Schritte von Sarah waren wie Stiche in ihr Herz und sie traten immer näher auf sie zu. Lotta schnappte sich ihre Tasche und rannte los. Unter ihren Füßen knirschte der Schnee und an manchen Stellen musste sie aufpassen, nicht auf dem glatten Eis weg zu rutschen. Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Sie wollte nicht zurück, sie konnte es nicht. Wenn sie in diese alte Bruchbude zurückging, dann musste sie in dieses furchtbare Heim. Das war ihr klar.

Mit einem Mal fiel sie unsanft zu Boden. Sie krümmte sich vor Schmerzen und hielt sich einige Sekunden ihren pochenden Knöchel, aber sie rannte weiter. Den Schmerz musste sie jetzt in den Hintergrund verdrängen. Ein Parkplatz. Und ein Auto, das darauf ansetzte, zurück zu fahren.

So schnell wie möglich stürmte sie darauf zu und öffnete wortlos die Hintertür, an deren Scheiben das Glas abgedunkelt war. "Bitte, ich bin nur für einen Moment hier", flehte Lotta und machte sich ganz klein, als sie ein Knurren vernahm.

"Bowie!", zischte der Mann seinen Hund an und sofort blickte Lotta in den Spiegel. Auch das noch. Jetzt saß sie bei Paddy, den sie vorhin erst so unsanft weggestoßen hatte im Auto und bat um Hilfe. Wenn der sie mal nicht verriet.

Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte und der Wagen zurücksetzte, pochte eine Frau gegen seine Scheibe. Lotta erkannte sofort, wer das war. "Entschuldigen Sie, haben sie ein Mädchen.. Moment mal, sie sind doch Paddy Kelly!", sie schlug sich ihre Hände vor den Mund und staunte. "Ich weiß nicht, wovon sie reden. Was war ihre Frage?" Ohne darauf einzugehen, bat er die Frau in höflichster Form, ihren Satz zu wiederholen.

"Haben Sie zufällig ein Mädchen gesehen? Vielleicht 1,60m groß, lange braune Haare und dunkel gekleidet? Lotta heißt sie."

Lottas Herz setzte aus. Jetzt war alles vorbei. Sie kam zurück zu dieser Rabenmutter und dann nahm das Schicksal ihren Lauf. Lieber würde sie erfrieren, als zu dieser Frau zurück zu gehen.

Paddy verzog das Gesicht. "No, sorry. Habe ich nicht gesehen." Warum deckte er sie? Er wollte gerade das Fenster schließen, als Sarah unbeeindruckt anfing zu lachen. "Dieses elendige Weib. Mein halbes Leben kümmere ich mich um diese Göre und dann haut sie einfach ab. Die ist doch krank!", schrie sie und schüttelte unverstanden den Kopf.

Da war es wieder. In den Augen der anderen Menschen war sie krank. Psychisch gestört, wenn man so wollte. Lottas Herz brannte. Vor Wut, vor Enttäuschung, vor Leere. Sie hatte doch auch gute Seiten, warum sah das keiner?

"Madame, entschuldigen Sie mich, aber das geht mich alles nichts an. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Suche, aber ihre Wortwahl gegenüber dieses Mädchens ist wirklich unter der Gürtellinie."

Kopfschüttelnd schloss er das Fenster und entfernte sich von Sarah, die wie festgefroren auf dem leeren Parkplatz stand. Lotta schaute aus dem Fenster. Wo sollte sie jetzt hin? Sie hatte niemanden mehr.

Eine Weile fuhr er stillschweigend die verschneiten Landstraßen entlang. "Lotta, also?", fragte er irgendwann und sah durch den Rückspiegel zu ihr. Weiter stellte er keine Fragen und fuhr seinen schwarzen Audi auf einen großen Hof, auf dem ein schönes gemütliches Häuschen stand.

Die Bäume, die das Ganze einsäumten, waren kahl und total verfroren. "Du kommst am Besten erst einmal mit rein." Paddy stieg aus und öffnete ihre Autotür. "Nein", sie verschränkte ihre Arme und sah von ihm weg. "Das war keine Bitte."

Unbeeindruckt lief er zu der anderen Seite, um Bowie hinaus zu lassen, der sich schon wie wild freute und sich auf ihn stürzte. Er griff nach seiner Leine und lief mit ihm zu der großen Haustür.

Lotta wusste, wenn sie jetzt nicht mit ihm mitginge, dann würde sie es nicht weit schaffen. Vorsichtig kämpfte sie sich aus dem Auto und trat kurz mit ihrem rechten Fuß auf. Sie lies einen lauten Schrei aus und fiel auf den kalten, dreckigen Boden. Ihr Fuß pochte und sie umklammerte schnell ihren Knöchel.

"Hey, what's up?! Ist alles okay?" Panisch kniete sich Paddy zu ihr und sah auf ihren Fuß. Zaghaft bewegte er seine Hände dahin und sie zuckte ruckartig weg. Schmerzverzerrt stöhnte sie und versuchte aufzustehen. "Come on, das wird nichts." Ohne auf eine Antwort zu warten hob er sie auf seine Arme und trug sie in ein warmes, gemütliches Wohnzimmer. Dort setzte er sie auf der weichen Couch ab und löste ganz vorsichtig den Schuh von ihrem Fuß.

Paddy schluckte. "Was hast du gemacht?" Ihr Blick fiel auf ihren Knöchel. Dieser war dunkelblau und angeschwollen und schmerzte höllisch. "Als ich weggerannt bin, bin ich umgeknickt", murmelte sie und verzog das Gesicht.

"Das sieht nicht gut aus, wir sollten zu einem Arzt", er stand auf und nahm wieder seinen Autoschlüssel in die Hand. "Ich will nicht und ich kann nicht", schniefte sie unter Tränen und drückte ihre Augen zu.

"Hey, du brauchst keine Angst haben. Es wird schon nicht so schlimm sein." Aufmunternd legte er seine Hand auf ihre Schulter und strich ihr über den kalten Pullover. "Aber erst einmal holen wir dir eine Jacke. Könnte zwar etwas groß sein, aber ich will nicht, dass du erfrierst", sagte er und ging aus dem Raum.

Out of the dark [Michael Patrick Kelly]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt