Dichter Nebel legte sich wie ein nasses Leichentuch über die Strassen von Seydar und hüllte alles in ein trostloses grau. Die Flammen einzelner Laterne, welche quietschend im Wind leicht hin und her schaukelten, warfen ihr fahles Licht auf die nassen Pflastersteinstrassen, ehe sie sich mit einem leisen Seufzer der Dunkelheit hingaben. Ab und zu hörte man Schritte, welche eilig in die verwinkelten Nebengassen verschwanden, das Schreien von Kinder oder das Bellen von Hunden. Ansonsten herrschte auf der sonst so belebten Hauptstrasse eine bedrückende Stille. Die goldenen Zeiger der grossen Kirche, welche in Mitten der Stadt stand, zeigten auf viertel nach drei morgens. Bald schon werden die Bäcker aufstehen, die Fischer ihre Netze auswerfen und die Bettler aus ihren dreckigen Löchern hinauskriechen. Schon bald werden die ersten Lichter in den Häusern die Dunkelheit vertreiben und das Leben in der Stadt zurückbringen. Doch jetzt, zu dieser Zeit, wo der Mond noch hell am Himmel stand und die Nacht wie ein Gewand seine Bewohner schützte, war die Zeit der Aussenseiter. Zwielichte Gestalten, Bettelmönche, Monsterjäger, Huren und Diebe trafen sich in den vielen Nebengassen, wie die Ratten an einer frischen Leiche und gingen leise und heimlich ihren Pflichten nach.
Zu dieser Zeit überquerte auch eine zierliche Gestalt, eingehüllt in einen schwarzen Mantel, mit gesenktem Kopf den grossen Markplatz. Ihr weisser Rock wehte wie eine Kriegsfahne im Wind, bauschte sich auf und liess wie so oft über ihre eigenen Füsse stolpern. Leise klackerten ihre Absätze über den Steinboden und hallten an den Wänden wieder. Zackig und ohne sich umzublicken steuerte sie das grosse Gebäude an, welches sich links vom Marktplatz befand. Ihre Hände umklammerten fest einen braunen Umschlag und über ihren Schultern hing eine grosse, lederne Tasche. Es klimperte bei jedem Schritt und das Gewicht vom Inhalt lastete schwer auf ihrem Oberkörper. Ihre Finger waren rötlich gefärbt von der Kälte, ebenfalls wie ihre Nase und ihre Wangen. Sie schien bereits lange in der Kälte zu sein, denn die Spitzen ihrer dunkelbraunen Haare waren von einer dünnen Schicht Eis belegt. Ein letztes Mal beschleunigte sie ihre Schritte, bog in die Seitengasse ein und erreichte endlich den Vorplatz des Gebäudes. Sie blieb einen kurzen Moment stehen, bis sich ihr Atem beruhigte und das Stechen in ihrer Brust nachliess und klopfte dreimal an die dicke Eichentür. Ungeduldig wartete sie auf das erlösende Knarren und die Wärme, die sie im Inneren erwarten würde. Nach einer gefüllten Ewigkeit wurde die Tür einen Spalt geöffnet, sodass sie gerade so hindurch huschen konnte, ehe sie wieder krachend ins Schloss fiel.
Gedämpftes Stöhnen und Wimmern drang aus den dicken Holztüren hindurch, welche die Pforte zu einer anderen Welt bildeten. Hier gab es keine gefühlte Zeit, kein Tag und keine Nacht - nur der Moment zählte. Von aussen sah das Gebäude mehr wie ein Gebetshaus aus. Hoch wölbte sich die weisse Kuppel in den Himmel und die verschnörkelten Säulen aus Marmor erinnerten an längst vergangene Zeiten. Die Wände bestanden ebenfalls aus weissem Gestein, ja sogar der Vorplatz war mit grauen und lachsfarbenen Kacheln aus Vatos belegt. Über dem massiven Türbogen stand in verschnörkelter Schrift geschrieben: «Déi Aisghabhàil a bheit», was so viel wie «Gottes Genesung sei gnädig» bedeutete. Ein Fremder, welcher der westlichen Sprache nicht mächtig war, kam nie auf die Idee, dass es sich hierbei um ein Lazarett handelte. Tatsächlich unterschied es sich auch deutlich von den Hospitälern, welche man in den Weiten von Tirardyen finden konnte. Nachdem das Alte erst letztes Jahr durch einen Aufstand niedergebrannt wurde, erbaute es die Bevölkerung mit Hilfe von Almor, der grössten und mächtigsten Stadt von Siar, erneut. Schon bald strömten Ärzte und Wissenschaftler von ganz Tirardyen herbei, um an der sich rasant entwickelnden Forschung und Heilkunde, teilzuhaben und Seydar entwickelte sich zum Zentrum der Heilkunst. Mit dem Kriegsausbruch zwischen Nurba und Vatos war es also kein Wunder, dass fast alle Betten belegt waren und Tag und Nacht ums Überleben gekämpft werden muss.
Dies wusste auch Keira, welche sich eilig den schwarzen Umhang vom Körper strich, ihn achtlos zu Boden fallen liess und den langen Gang entlangeilte. Mit geübten Griffen bedeckte sie ihre Nase und ihr Mund mit einem weissen Tuch und band ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Ihr Atem geht schnell und kleine Schweissperlen rannten über ihr erhitztes Gesicht. Es war heiss und stickig und überall stank es nach Erbrochenem, Kot und Fäulnis. Auf ihrem Weg zum Ende des langen Ganges fuhr ihr Blick über die vielen Verletzten, welche sich jammernd und stöhnend vor Schmerzen auf ihren Betten wanden und von den weiss, rot eingekleideten Krankenschwestern gepflegt wurden. Die meisten litten unter schweren Stichverletzungen, Verbrennungen oder Schnitte, welche sie sich auf dem Schlachtfeld zugezogen haben. Denn obwohl Siar sich vom Kriegsgeschehen distanzierte, kamen die Verletzten schubkarrenweise in die Stadt angefahren. Die meisten waren Soldaten, aber es trafen auch immer mehr Flüchtlinge, insbesondere Kinder und junge Frauen, in die Stadt ein. Es war ein schrecklicher Anblick und Keira wollte am liebsten helfen, doch die Zeit drängte.
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Pfad der Vergessenen
FantasiaAls Keira eines Abends von einer vermummten Gestalt einen Stein übergeben bekommt, überschlagen sich die Ereignisse. Ein alter Hexenstamm sucht die verunsicherte Frau auf und zwingt sie, mit ihnen mitzukommen. Dort erfährt sie von den vergangenen Ge...