Die Willenskraft packt mich und ich springe so schnell auf die Füsse, dass das Mädchen, immer noch am Boden sitzend, leicht zusammenzuckt. „Was hast du vor?", fragt sie, als könne sie den Tatendrang meinem Gesicht ablesen. Tief atme ich ein und blicke zur untergehenden Sonne. „Viel zu lange habe ich jetzt schon gezweifelt. Aber ich will endlich so leben, wie ich es schon lange hätte tun sollen", sage ich fast schon feierlich. „Und das habe ich jetzt erkannt."
Das Mädchen lächelt erneut und nickt zuversichtlich. „Viel Glück", meint sie. Einen Moment lang schaue ich sie an, präge mir ihr Gesicht ein, das nun gar nicht mehr gefühlskalt wirkt, so als würde ich sie zum letzten Mal sehen. „Ich bin froh, dich getroffen zu haben, hoffentlich wirst du deinen Bruder finden", sage ich und verspüre plötzlich grosse Dankbarkeit, auch wenn sie eigentlich doch nur eine fremde Person ist, die ihre Lebensgeschichte mit mir geteilt hat. Doch für mich ist es weitaus mehr als das. Sie hat mich zu meinen Träumen zurückgeführt.
Ich wende mich ab von der alten Platane und dem Mädchen, das die Stille füllen will. Und als ich zurückkehre, befindet sich kein Brief mehr im Durcheinander meiner Tasche und auch kein Mädchen mehr unter den ausladenden Ästen des Baumes.
Der Nachthimmel breitet sich dunkel über der Sommerwiese aus und kein einziger Stern funkelt am Firmament. Kaum zu erkennen ist der hell scheinende Mond hinter den grauen Wolken. Auf meiner Hand schimmern kleine Regentropfen, geräuschlos und fein herabfallend. Und tatsächlich sehen sie aus wie Himmelstränen.
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Himmelstränen
Short Story"Ich kenne den Grund für meine Angst nicht, aber sie steht meinem Leben so oft im Weg. Vermutlich wäre ich nicht so furchtlos gewesen wie sie. Ich frage mich, wie lange dieses Mädchen wohl schon gesucht und vermisst hat und wie lange sie es noch tun...