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Eine leichte, kühle Brise weht über das offene Land und bewegt träge die hohen Grashalme. Nur das Summen von Insekten und hin und wieder das leise Zwitschern einiger Vögel ist zu hören. Graue Wolken haben sich vor die Sonne geschoben und lassen die sommerliche Stimmung ergrauen. Kaum zu erkennen sind die kleinen Regentropfen, die langsam beginnen vom Himmel zu fallen. Das Gras ist ausgedörrt von der Sonne, die tagtäglich darauf hinabscheint, und die trockene Erde hat schon lange kein Wasser mehr gespürt.

Aus kleinen Tröpfchen wird schon bald ein heftiger Regenschauer, dessen gleichmässiges Trommeln auf dem Boden an einen tosenden Applaus erinnert. Einer, der nur für mich bestimmt ist. Als würden unzählige Menschen in ihre Hände klatschen und mir applaudieren.

Das weit ausladende Blätterdach schützt mich vor dem Regen. Nur hin und wieder finden einzelne Wassertropfen den Weg durch das Gewirr aus Zweigen und Blättern und platschen hinab auf den Grund. Schon seit einigen Minuten sitze ich nun hier und beobachte den Regen, wie er ruhig und gleichmässig auf das Gras prasselt. Meine Beine sind angewinkelt und mein Rücken an die raue, braune Rinde des alten Baumes gelehnt. Ich frage mich, wie viele solcher Sommergewitter er wohl schon erlebt hat.

Mein Blick wandert hinauf in den grauen Himmel. Ich stemme mich auf die Füsse, die vom langen Sitzen schon eingeschlafen sind, und stapfe durch das regennasse Gras. Flüchtig strecke ich meine Finger aus und beobachte, wie sich kleine Tropfen meiner Handfläche ansammeln. „Sie sehen aus wie Himmelstränen, nicht wahr?"
Überrascht lasse ich meine Hand sinken und drehe mich um, als die leise Stimme hinter mir ertönt. Dort unter dem Baum, wo ich noch vor einigen Momenten gesessen und den Regen beobachtet habe, steht ein Mädchen. Sie ist von zierlicher Gestalt und ihre mittellangen Haare fallen über schmale Schultern. Schweigend starrt sie mich an, ihr Gesicht ausdruckslos und nichtssagend. Als ich merke, dass sie auf meine Antwort wartet, blinzle ich verdutzt. An diesem Ort bin ich noch nie jemandem begegnet, von einigen Spaziergängern, die sich zu weit im Wald verirrt haben und auf diese einsame Wiese getroffen sind, mal abgesehen.

Einen Moment lang wende ich meinen Blick wieder ab und senke ihn auf die fallenden Regentropfen. „Stimmt", meine ich schliesslich. Das Mädchen schaut mich nur weiterhin an, ohne ein Wort zu sagen. Zögernd kratze ich mich am Hinterkopf, unsicher, was dieses fremde Mädchen nun von mir will. „Wie heisst du?", frage ich nach Momenten der Stille, da mir ihre Blicke langsam unangenehm werden. Die Frage reisst sie aus ihrer Starre und zum ersten Mal scheint sie mich wieder richtig wahrzunehmen. „Mein Name ist unwichtig", sagt sie schlicht. Etwas überrascht über diese ungewöhnliche Antwort runzle ich die Stirn, hake aber nicht weiter nach. Als das Mädchen meinen erstaunten Gesichtsausdruck bemerkt, fügt sie noch hinzu: „Ich verstehe den Drang der Menschen nicht, alles und jeden benennen zu wollen."

Etwas an der Art, wie sie es sagt, klingt leicht verächtlich. So, als würde sie sich selbst nicht als Mensch sehen, sondern sich ihnen überordnen. Auf mich wirkt ihre Antwort absurd und faszinierend zugleich. Was sie wohl zu dieser kühlen Denkweise verleitet?

Viele weitere Fragen, geleitet von meiner Neugier, schiessen mir durch den Kopf. Doch statt ihr eine davon zu stellen, versuche ich es mit einer belangloseren. „Kommst du oft hierher?", frage ich also, ohne auf ihre vorherige Bemerkung einzugehen.

Mittlerweile hat sich das Mädchen an den Stamm der alten Platane gelehnt und beobachtet, wie ich zuvor, mit verschränkten Armen den fallenden Regen. Ihre Augen wandern kurz zu mir, als ich wieder zu sprechen beginne, richten sich aber sogleich zurück in die Ferne. „Nein", erwidert sie schliesslich. „Heute zum ersten Mal."

Ich verzichte darauf, nach dem Grund für ihr plötzliches Erscheinen zu fragen, oder woher sie stammt, denn dieses Mädchen wirkt nicht sehr gesprächig. Für oberflächliche Themen wie ihr Name, scheint sie ebenfalls kein Faible zu haben. Stattdessen entscheide ich mich also dafür, etwas von mir zu erzählen: „Ich habe diese Wiese als Kind entdeckt und seitdem komme ich hierher." Ob sie das überhaupt interessiert, weiss ich nicht, doch ich habe das sonderbare Bedürfnis, mich ihr anzuvertrauen. „Dieser Ort hat etwas sehr Besonderes an sich. Hier fühle ich mich sicher und er strahlt eine gewisse Magie aus, die mich alle Strapazen und die Langeweile im Alltag vergessen lässt."

Das Mädchen schaut mir nun erstmals direkt in die Augen. In ihrem Ausdruck liegt Besonnenheit und sie nickt wissend. „So etwas wie ein Rückzugsort also?"
Damit bringt sie es ziemlich genau auf den Punkt, wobei das eigentlich nur in der letzten Zeit der Fall ist. Denn früher musste ich meinem Leben nie entfliehen.

Liebe Leser ^^

Es freut mich, dass ihr meine Geschichte 'Himmelstränen' ausgewählt habt. In dieser Kurzgeschichte geht es um das Leben und verlorene Träume, aber seht selbst! Ich wünsche euch viel Spass beim Lesen. :)

~ElenaFleming

HimmelstränenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt