Die zweite Chance

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Was würde wohl der König tun, wenn er erführe, dass sein Volk von seinen Plänen wusste? Pläne, angetrieben aus Wut, Rache und Angst? Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab, als Eawyn sich dieses Szenario vorstellte. Nein, sie durfte niemanden von diesen Neuigkeiten wissen lassen. Niemanden.

Lauter Jubel und Geklatsche drang an ihre Ohren und holte sie aus ihren Gedanken. Eawyn blickte nach vorne und erkannte eine Ansammlung von Menschen, die einen Halbkreis am Straßenrand gebildet hatten. Neugierig drängte sie sich an den Massen vorbei und erstaunte, als sie vier Stadtmusikanten erblickte, die gerade ein fröhliches Lied zu Ende spielten. Die Menge klatschte. Ab und an wurden einige Silbermünzen in den schäbigen Hut geworfen, der vor den vier jungen Männern lag. Einer der Männer, der die Flöte spielte, ging nach vorne und nahm den Hut an sich.

„Vielen Dank, werte Freunde!", sagte er lächelnd und verbeugte sich leicht. Dabei hielt er seine rechte Hand gegen die Brust gedrückt, die andere mit der Mütze in der Luft. Fasziniert betrachtete Eawyn die vier jungen Männer, wie sie ein neues Lied begannen und die Menge sofort in ihren Bann zogen. Die tiefen Töne der Trommel und die hellen Töne der Flöte und Trompete bildeten einen Kontrast zu den weichen zarten Tönen der Harfe. Beeindruckt betrachtete Eawyn die Männer, wie sie fröhlich und munter ihre Instrumente spielten. Doch ihr Blick blieb am dunkelhaarigen Mann hängen, der ein dunkelrotes Stirnband trug und mit geschlossenen Augen die Harfe spielte. Eawyn betrachtete sein Gesicht, das ganz entspannt wirkte aber doch die Leidenschaft spiegelte, die er für sein Instrument und für die Musik hegte. Die harmonische Melodie der Harfe umspielte ihre Sinne, neckte und lockte sie, sich ihr hinzugeben. Mit geschlossenen Augen lauschte sie den zarten Tönen und Eawyn spürte wie ihr innerer Frieden sie erfüllte und in jede einzelne Faser ihres Körpers drang.

Erst als das Lied verstummte und die Menge wieder in Jubel ausbrach, merkte sie, dass sie weinte. Schnell wischte sie sich die Tränen von der Wange und atmete mehrmals tief durch. Das eine Melodie sie so sehr berührt hatte, war Eawyn noch nie passiert. Kein einziges Mal in ihren zwanzig Wintern, die sie überlebt hatte, war sie von ihrem inneren Frieden so überwältig worden.

Als der Harfespieler endlich seine Augen öffnete und lächelnd die jubelnde Menge betrachtete, ließ es Eawyns Puls schneller schlagen. Sein Grinsen war atemberaubend. Schnell wühlte sie in ihrer Tasche nach ein paar Münzen und warf sie in den schäbigen Hut. Die paar Münzen waren es ihr Wert gewesen.

„Habt Dank, schöne Frau.", sagte der Flötenspieler lächelnd und zwinkerte ihr zu. Eawyn erwiderte sein Lächeln, antwortete jedoch nicht und verschwand sofort in der Menge. Doch statt aus der Menge hinauszugehen wurde sie am Kragen ihres Leinenhemdes festgehalten und zurückgezogen. Verwundert drehte sie sich um und blickte in Rask's Gesicht. Sein linkes Auge war angeschwollen und hatte sich lila blau gefärbt. Ein schiefes Lächeln zierte sein relativ hübsches Gesicht und er nahm Eawyn an die Hand und führte sie aus der Menge.

„Was willst du von mir?", fragte sie etwas zu zornig und entzog sich Rask's Griff.

Langsam drehte er sich um und blickte an ihr vorbei. Seine Haltung verriet ihn. Ihm war die Situation sichtlich unangenehm.

„Ich...", begann er. „Ich wollte mich entschuldigen, Eawyn. Du weißt schon, für die eine Nacht."

Eawyn erinnerte sich an diese Nacht. Sie war zu Rask gegangen um ein bisschen Spaß zu haben, doch dieser Spaß hatte seine Grenzen die Rask eindeutig überschritten hatte. Und das würde Eawyn nicht so schnell vergessen.

„Ich weiß nicht was da über mich gekommen ist. Außerdem erinnere ich mich nicht mehr an allzu viel. Ich denke, ich war zu betrunken."

Bei seinen Worten musste Eawyn schlucken. Es war nicht der viele Met gewesen, der Rask an nichts erinnern ließ, sondern ein mysteriöser nackter Mann hatte ihn gegen eine Hauswand geschleudert und sie so vor Rask Grabscherei gerettet. Eine Gänsehaut überkam sie als sie an den Fremden denken musste, wie er sie angesehen hatte, aus diesen einzigartigen Augen.

„Wie gesagt, es tut mir Leid. Verzeihst du mir, Eawyn?", fragte Rask hoffnungsvoll. Doch Eawyn's Gedanken waren bei dem fremden nackten Mann, den sie einfach nicht aus ihren Gedanken verbannen konnte. Allein die Erinnerung an seinen perfekten starken Körper und seine markanten Gesichtszüge ließ einen heißen Schauer über ihren Rücken laufen. Wie benebelt blickte sie Rask an und überlegte was sie nun tun sollte. Sie musste verdammt noch mal diese Bilder von strammen Waden und starken Oberarmen aus dem Kopf bekommen. Eawyn schluckte schwer als sie eine Entscheidung traf.

„Ich verzeihe dir, Rask.", antwortete sie und setzte ein Lächeln auf. Rask atmete hörbar aus und man konnte die Erleichterung in seinem Gesicht erkennen.

„Danke", sagte er glücklich. „Komm, lass mich dir helfen." Rask nahm Eawyn den schweren Sack, der mit Kohl und Tomaten gefüllt war, ab. „Bist du mit deinem Pferd hier?", fragte er als er den Sack an sich genommen hatte.

„Ja, es steht nicht weit von hier an einem Holm.", gab Eawyn zurück und begab sich in die besagte Richtung. Als Rask neben ihr herging, fragte sie sich, ob es klug war, ihm zu verzeihen. Rask war ein Raufbold gewesen als sie ihn kennen gelernt hatte, der von seinem Vater täglich Prügel bezog, weil er jeden Tag mit einer neuen Verletzung und mit einem neuen Mädchen erwischt worden war. Doch diese Zeit war vorbei und er vergnügte sich nun mit mehr Prügeleien und weniger Mädchen. Daher vermutete Eawyn, dass sein blaues Auge von einer seiner nächtlichen Auseinandersetzung stammte.

Als die beiden Eawyn's Pferd erreichten und Rask den Sack abstellte, ging er sich durch die Haare und grinste sie frech an.

„Ich habe etwas für dich, Eawyn." Eawyn zog überrascht ihre Augenbrauen hoch und grinste zurück.

„Tatsächlich? Was denn?", fragte sie interessiert und sie konnte nicht das Gefühl von Aufregung unterdrücken. Rask sah einfach zu süß und sexy aus, wenn er sein freches Lächeln auflegte.

Grinsend sah er sie an, beugte sich vor und flüsterte etwas in ihr Ohr:

„Triff mich morgen Nacht in der verlassenen Mühle. Dort wirst du deine Überraschung bekommen."

Eawyn stieg die Röte ins Gesicht, denn sie wusste, welchen Ort er meinte. Rask wollte sich mit ihr in der verlassenen Mühle treffen, die etwas abseits von der Innenstadt der Königsstadt stand und den Ruf hegte, dass hier schon unzählige Mädchen ihre Jungfräulichkeit verloren hatten.

Als Rask ihr errötendes Gesicht sah, stieß er ein kehliges Lachen aus und streifte ihr eine lose Haarsträhne hinters Ohr. „Bis morgen, dann.", sagte er lächelnd.

Mit klopfendem Herzen blickte Eawyn hinter Rask her und fragte sich, worauf sie sich da nur eingelassen hatte.



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Die Gabe - FeuerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt