Aus den Augen, aus dem Sinn

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Melanie schlenderte den Weg entlang, bog wieder um die beiden Ecken und - stand vor einem leeren Stellplatz. Das Mädchen sah sich um. War sie falsch abgebogen? Die Reihe stimmte, nur das Wohnmobil war verschwunden. Wo könnten sie sein? Die Abwasser-Station. Melanie klopfte wieder mit der Fußspitze auf den Boden und rannte los. Im Park gab es zwei Abwasserstationen nebeneinander, an denen man den Schmutzwassertank der Toilette ablassen und den Frischwassertank auffüllen konnte. Ihr Vater fuhr diese Station jedes Mal an, bevor es wieder auf die Straße ging. Melanie versuchte, noch schneller zu rennen und dabei nicht ihr Handy zu verlieren, das nicht in ihre winzige Hosentasche passen wollte.

Aber als sie an der Abwasserstation ankam, war eine davon mit einem fremden Camper belegt und die andere leer. Von hier aus konnte sie den Ausgang sehen, aber die Straße war ebenfalls leer.

Hektisch zog sie ihr Handy aus der Hosentasche. Mit einem Stoßgebet, dass es nicht gleich wegen restlicher Feuchtigkeit durchbrennen würde, schaltete sie es an. Es waren keine SMS und kein Anruf eingegangen, also hatten ihre Eltern nicht versucht, sie zu erreichen. Dann hatten sie also wirklich ... Melanie schüttelte den Kopf und versuchte, den Gedanken loszuwerden. Sie wählte die Nummer ihrer Eltern und wartete. Der Freizeichenton rang ihr in den Ohren, bis irgendwann ein Piepsen ertönte und die Ansage einer Maschine, dass die Mailbox dran war. Mit einem frustrierten Aufschrei stampfte sie so fest auf, dass ihr Bein davon weh tat. Sie wählte die Nummer ihrer Schwester.

„Hallo?", meldete sich eine verschlafene Carina.

„Haben sich unsere Eltern bei dir gemeldet?", fragte Melanie ohne Umschweife.

„Nein, was ist denn los, dass du mich mitten in der Nacht weckst?"

„Sie haben nicht angerufen und dir keine Nachricht geschickt?", fragte die Jüngere nochmal.

„Nein, haben sie nicht. Was ist los?", fragte Carina wütend.

Melanie fluchte, „Sie haben mich vergessen."

„Was hast du gesagt?"

„Sie haben mich auf einem verdammten Campingplatz vergessen!", rief die jüngere Schwester wütend.

„Das ist nicht dein Ernst. Du machst Witze." Carina war mit einem Schlag wach.

„Über sowas mach ich keine Witze!"

„Was ist genau passiert?"

„Letzte Nacht haben sie mich im strömenden Regen ausgesperrt und sind schlafen gegangen. Ich wurde von ein paar netten Leuten über Nacht aufgenommen. Als ich heute Morgen zurück bin, waren sie noch da, aber ich musste ein paar Klamotten zurückbringen. Ich hatte ihnen gesagt, dass ich gleich wieder da bin. Aber als ich zurückgekommen bin, waren sie weg! Nichteinmal angerufen haben sie! Sie haben mich vergessen!" Ihr kamen die Tränen. Sie weinte nicht oft, aber sie hatte auch immer einen letzten Funken Vertrauen in ihre Eltern gehabt. Sie hatte immer gedacht, dass wenigstens ihre Kinder von der Streiterei verschont bleiben würden. Dass wenigstens die elterliche Fürsorge nicht leiden würde. Aber in diesem Moment erstarb auch dieser letzte Funken Vertrauen. Sie wollte ihre Eltern nie wieder sehen.

„Was mach ich denn jetzt? Mein Geld, mein Pass, meine Karten. Alles ist bei denen!", Melanies Stimme zitterte. Ihre Hände zitterten. Sie ging ein paar Schritte, dann gaben ihre Knie nach und sie setzte sich hart ins Gras.

„Kannst du nochmal bei den Leuten unterkommen, bei denen du geschlafen hast?", fragte Carina ruhig. „Ich versuche derweil, die beiden Streithähne zu erreichen."

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nichtmal, ob sie noch hier sind", Melanie fühlte sich kraftlos.

„Kannst du es versuchen? Oder geh ins Büro. Wenn ich die beiden erreicht habe, melde ich mich wieder. In Ordnung?"

„Was anderes wird mir nicht übrig bleiben.", seufzte sie.

„Alles wird gut. Ich regel das."

„Danke." Melanie legte auf und sah sich um. Sollte sie zurückgehen und sich wieder bei Jo einladen? Ihr Handy vibrierte unvermittelt.

Wieder on the Road? Hast du die Nacht gut verbracht?
Raccoon

Sie brach in Tränen aus und tippte los:

Sie haben mich vergessen! Sie haben mich einfach auf einem Campingplatz sitzen lassen! Was sind das für Eltern? Wenn ich sie anrufe, gehen sie nicht einmal ran! Was soll ich denn jetzt machen?

Die Antwort ließ wie immer nicht lange auf sich warten:

Was hast du letzte Nacht gemacht, als sie dich ausgesperrt hatten?

Sie antwortete promt:

Fremde haben mich aufgenommen. Dank ihnen hab ich jetzt keine Riesenerkältung. Meine Schwester hat vorgeschlagen, dass ich bei denen nochmal unterkommen soll, aber ich hab ein schlechtes Gewissen.

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, aber es kamen mehr.

„Hätte nicht gedacht, dass das mit dem ‚Wir sehen uns wieder' so schnell geht." Jemand hockte sich vor sie.

Sie sah auf. Durch einen Tränenschleier sah sie ungekämmte dunkelblonde Haare und tiefblaue Augen.

„Raban?", fragte sie verblüfft.

„Was ist denn mit dir passiert?", fragte er sofort, als er ihr tränenverschmiertes Gesicht sah.

Melanie schniefte. Sie wischte ihr Gesicht an ihrem Shirt ab und erzählte ihre Geschichte noch einmal: „Meine Eltern sind gefahren. Ohne mich. Sie haben mich vergessen."

„Was?" Er fasste sie an der Schulter. „Und jetzt?"

„Meine Schwester versucht sie zu erreichen. Als ich sie angerufen hab, hat keiner abgenommen", erklärte sie zitternd.

„Sie haben dich wirklich vergessen? Da bist du dir sicher? Sie haben nicht den Platz gewechselt?"

Sie schüttelte den Kopf, „Meine Mutter hat einen strikten Plan und wenn mein Vater sich nicht daran hält, flippt sie aus."

„Ich fass es nicht." Er stand auf und sah sich kurz um. Dann fasste er sie entschieden am Arm und zog sie hoch und hinter sich her.

„Was machst du?", fragte sie verwirrt, während sie hinter ihm herstolperte. „Raban, was wird das?"

„Wir fragen im Büro, ob sie ausgecheckt haben. Und dann kommst du wieder mit zu uns. Du kannst nicht hierbleiben." Entschlossen zog er sie mit sich.

„Was? Warum?"

„Zu wem willst du denn gehen, bis sie dich holen kommen? Kennst du hier noch jemanden?",fragte er.

„Aber euch kenn ich doch auch nicht!", rief sie.

Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um: „Du hast bei meinem Bruder geschlafen. In meinen Boxershorts. Ich würde nicht sagen, dass wir uns nicht kennen." Er zwinkerte ihr zu. Sie starrte ihn perplex an, konnte aber nichts erwidern, also zog er sie wieder mit sich.

„Übrigens solltest du hier nicht allzu laut sagen, dass du in meiner Unterwäsche geschlafen hast", fügte er hinzu.

„Hast du eine eifersüchtige Freundin?", fragte sie nervös lachend.

Raban warf ihr einen Blick über die Schulter zu und meinte nur: „Fanclub. Hardcore."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 17, 2018 ⏰

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