Prolog - Wie wir uns kennen lernten...

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Ich öffne meine Augen und sehe als erstes die weiße Decke meines Zimmers. Alles scheint bis dahin normal, doch als ich mich auf den Rand meines Bettes setzte, sehe ich die ganzen Umzugskartons die noch herumstehen. Wir sind gestern nach Liverpool gezogen. Das hätte ich beinahe vergessen und als wäre das noch nicht genug gewesen höre ich jetzt auch schon die Regentropfen gegen das Fenster prasseln. Ich reibe mir noch einmal die Augen, dann stehe ich auf und suche die neue Schuluniform aus einem der Kartons. Der Vorteil des Umzuges ist, dass ich jetzt mein eigenes Bad habe, und früh morgens nicht mehr darauf warten muss, dass mein Bruder endlich fertig wird. Während ich mir die Zähne putze, meine blonden Haare kämme und mich anziehe, denke ich darüber nach, wie ich heute wohl den ersten Schultag in der neuen Schule überleben werde.

Ich gehe in die siebte Klasse. In meiner letzten Schule konnte ich schon erleben wie grausam Kinder in diesem Alter sind. Wie werden sie dann hier zu mir, der komischen Neuen, sein? Im Grunde ist das ja auch egal. Ich war nie der Typ, der viele Freunde hat, oder unglaublich beliebt bei den anderen ist und das ist auch in Ordnung.

Beim Frühstück rede ich nicht viel. Ich antworte höchstens mal mit einem „Ja" oder „Nein" auf die Fragen meiner Mutter. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich losgehen muss. Mein Bruder geht auf eine andere Schule, deshalb kenne ich wirklich niemanden in meiner. Mein Vater hat mir gestern Abend noch den Weg gezeigt, den ich gehen muss. Ich habe noch viel Zeit, aber laufe trotzdem sehr schnell um nicht zu lange mit meinen Gedanken allein zu sein.

Endlich erreiche ich den Schulhof. Ich sehe eine Gruppe Jungs in einer Prügelei, nahe des Schultores. Einer der Jungen scheint mich bemerkt zu haben und der Augenblick in dem er zu mir sieht, bringt ihm einen ziemlich schmerzhaft aussehenden Kinnhaken ein. Irgendwie fühle ich mich dafür schuldig, aber ich will mich auch nicht am ersten Tag mit einem Haufen ziemlich kräftiger, großer Jungs prügeln, weil einer von denen so blöd ist und mich anstarrt.

Ich sehe mich gedankenverloren weiter auf dem Schulhof um. Ein Grüppchen Mädchen unterhält sich neben dem großen Baum der in der Mitte des Schulhofes steht. „Hallo, wer bist du denn?" höre ich plötzlich jemanden hinter mir rufen. Ich drehe mich um. Dort steht ein schwarzhaariges Mädchen mit grünen Augen. „Ich?" Frage ich verwirrt. „Wer denn sonst?" erwidert das schwarzhaarige Mädchen mit einer Stimme als wäre ich etwas schwer von Verstand. „Ich äh... ich bin Prudence. Prudence Carter. Und wie heißt du?" frage ich sie. „Lavender Fox." Antwortet sie mit einem breiten Grinsen. Während ich mich frage ob ihr Name hier in Liverpool was Besonderes ist und ich was verpasst habe, kommt sie zu mir. „In welcher Klasse bist du?" fragt sie mich während wir an dem Knäuel aus gegenseitig auf sich einschlagenden Jungs vorbei in Richtung Schulhaus gehen. „7c." antworte ich kühl. „Ich auch. Du kannst dich heute gerne neben mich setzen." Strahlt Lavender. Ich belle ein halbherziges „Danke!" als Antwort und während sie mich weiter voll labert gehen wir zusammen zum Klassenraum. Ich höre ihr nicht zu, doch das scheint sie nicht zu bemerken. In meinen Gedanken bin ich weit weg von all dem hier. Weit weg von Liverpool und besonders weit weg von Lavender. Sie ist wahrscheinlich der Meinung, dass wir jetzt so etwas wie beste Freunde sind, oder sie denkt, dass sich jemand um die einsame Neue kümmern muss oder irgendetwas in der Richtung. In Wahrheit komme ich aber auch ganz gut allein klar.

Die ersten beiden Stunden die wir haben sind Mathe. Die Lehrerin erzählt etwas über Zufälle und Wahrscheinlichkeiten. Nichts, was ich nicht schon längst weiß. Ich habe mich wie vorgeschlagen neben Lavender gesetzt. Sie scheint nicht die hellste zu sein. Während ich meine Aufgaben löse, starrt sie verständnislos in ihr Buch und kaut auf ihrem Bleistift rum. Irgendwann klingelt die Pausenglocke und alle strömen auf den Schulhof. Ich bleibe ein bisschen hinter den anderen zurück. Lavender hat mir angeboten, draußen mit bei ihr und ihren Freundinnen zu stehen, was ich dankend ablehnte. Deren ewiges Gerede über Klamotten, Frisuren und andere Banalitäten ödet mich an. Ich nehme mir ein Buch mit auf den Schulhof und lese darin. Wenn ich lese, blende ich alles um mich herum aus, was vielleicht nicht so gut ist, denn plötzlich kommt ein fester Stoß von hinten gegen meinen Rücken und ich falle nach vorn direkt in eine riesige Pfütze. Ich lege eine Bauchlandung hin und mein Buch landet spritzend vor mir im Dreck. Während ich danach greife sehe ich vor mich. Dort steht der Junge der vor der Schule zu mir gesehen hat. Er hat einen dicklichen Sechstklässler mit langen Schneidezähnen am Kragen gepackt und brüllt ihn an: „Hast du keine Augen im Kopf? Wegen dir ist das Mädchen ganz nass! Wenn du das nächste mal unbedingt jemanden umrennen musst such dir wenigstens einen aus der so klein, fett und hässlich ist wie du!" Dann schubst er den Jungen weg, sodass der unsanft auf seinem hintern landet. Der große Junge beugt sich zu mir herunter und hält mir seine Hand entgegen. Ich nehme sie und er hilft mir beim Aufstehen. „Hast du dich verletzt?" Fragt er und seine hellbraunen Augen sehen besorgt aus. „Nein, nein geht schon. Nur mein Buch hat was abbekommen." Antworte ich. „Zeig mal her." Meint er und deutet auf mein Buch. Ich gebe es ihm, er wischt den Schlamm vom Titel und liest vor: „Alice im Wunderland." Dann sieht er mich an und ein Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus. „Mein Lieblinsbuch." Meint er. „Meins auch." Erwidere ich und fange auch an zu Lächeln. „Wie heißt du?" Fragt er. „Prudence. Prudence Carter." Antworte ich. „Ich bin John. John Lennon." Sagt er. Unsere Blicke kreuzen sich und in dem Moment in dem wir uns gegenseitig in die Augen sehen, verändert sich irgendetwas in mir. Wir sagen eine Zeit lang nichts, bis ich irgendwann die Stille unterbreche und frage: „Alles klar, John Lennon. Bekomme ich mein Buch zurück?" „Bitte, das Ding kann man doch nach seinem Sturz ins Wasser kein Buch mehr nennen." Spottet er und steckt das tatsächlich sehr voll gesogene Bündel aus Papier und Pappe in seine Manteltasche. „Ich sag dir was, du kommst heute nach der Schule in den Park zu der alten Weide. Ich komme auch und bringe dir ein neues Buch mit. Was meinst du?" Fügt er hinzu. „Klar." Antworte ich und streiche mir eine Haarsträne hinters Ohr. „Nur noch eine Frage." Fordere ich und er wirft mir einen erwartenden Blick zu. „Warum das Alles?" Frage ich und er antwortet mit einem Achselzucken: „Weil du mir ebenbürtig erscheinst, Prudence Carter." In dem Moment klingelt die Schulglocke und John verschwindet, jedoch nicht, ohne mir noch einmal zuzuzwinkern.

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