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Meine Kinnlade liegt wahrscheinlich in diesem Augenblick irgendwo unten auf dem schmutzigen Boden, während ich den Mann mit geweiteten, kugelrunden Augen ansehe. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass wir tatsächlich nickte, da es so unmerklich gewesen ist, dass ich es mir genauso gut einbilden kann.

Es ist bestimmt ein Zufall. Natürlich ist es ein Zufall. Jeder Dreißigjähriger, der sein Leben einigermaßen im Griff hat, hat eine Frau und ein Kind.

Aber es wäre kein Zufall mehr, wenn diese verstorben wären.

Ich bin so neben der Spur, dass ich die Dreistigkeit besitze und mich auch gar nicht mehr daran hindern kann, als mir die Frage herausrutscht, ob sie gestorben sind. Meine Neugier drängt mich, wird gelenkt von der eigentlich lähmenden Angst, da ich keine Ahnung habe, was hier gerade geschieht. Und wenn er die Frage verneint, so unangebracht sie auch sein möge, dann kann ich dieses Thema eventuell einfach abharken. Einfach hinter mir lassen und am besten aus meinem Gedächtnis verdrängen.

Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, ehe er langsam, sichtlich verwirrt und überrascht der Frage gegenüber, den Kopf schüttelt und gleichzeitig ein "Nein" von sich gibt.

Ohne, dass ich es bemerkt habe, habe ich die Luft angehalten, welche ich jetzt erleichternd ausatme.

Gott sei Dank. Es war nur ein Zufall.

"Wieso fragen Sie mich sowas?", harkt der Kunde immer noch verwirrt nach. Gerade, als ich endgültig beschließe, diese Sache, den gesamten gestrigen und heutigen Tag in den Papierkorb meines Gedächtnisses zu schieben und so tun möchte, als wäre vorhin nie etwas geschehen. Wobei der tropfende Angstschweiß auf meiner Stirn eigentlich genau das Gegenteil verrät.

"Ist 'n Schulprojekt", denke ich mir aus und zucke belanglos mit den Schultern. Ich kann ihm ja schlecht sagen, ich hätte einen 'Traum' (wie zur Hölle soll ich das betiteln?) gesehen, wie seine Frau deren Kind aus ihrer Vagina gepresst hatte und wie er sich anschließend heulend im Dreck auf dem Friedhof wälzt, aufgrund seiner Verluste.

Er hätte mich als psychatriereif eingestuft.

Aber vielleicht bin ich das ja auch? Verliere ich allmählich meinen Verstand? Brauche ich wirklich professionelle Hilfe?

Der fremde Mann mustert mich misstrauisch, jedoch dreht er sich dennoch wortlos um und verlässt das Grundstück.

Nachdem die Tür ins Schloss fällt, atme ich abermals erleichtert aus und spüre, wie sich eine gewaltige Last von meinen Schultern entfernt hat. Ich versuche mich mental zu beruhigen. Sage mir immer wieder, dass all das jetzt Geschichte ist. Es ist nichts gewesen. Nie auch nur irgendwas merkwürdiges in der Art geschehen. Ich habe womöglich einfach nur die letzten Nächte zu wenig Schlaf abbekommen, sodass meine Fantasie mit mir durchgeht.

Als mein Blick zum großen Fenster zu meiner Linken schweift, um zu überprüfen, dass der Mann tatsächlich vom Parkplatz runterfährt, entdecken meine Augen den Blondschopf aus meiner Schule, wie er mit dem Rücken an seinem Wagen lehnt und mir direkt ins Gesicht sieht.

Wie lange steht er schon da? Wie lange beobachtet er das Ganze hier schon? Und vor allem: Wie viel hat er mitbekommen?

Zac wirft mir noch einen letzten, komischen und misstrauischen Blick zu. Dann steigt er in seinen Wagen und braust davon, während ich ihm verdattert hinterher blicke.

Kleiner Stalker?

~ ~ ~ ~

Schon seit Beginn des Schultages spüre ich Zacs Blicke auf mir, wenn ich ihm auf dem Schulhof oder wo auch immer über den Weg laufe, was bei mir ein unbehagliches Gefühl verursacht. Ich weiß wirklich nicht, was er damit bezwecken will, aber trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass er mich für verrückt und merkwürdig hält. Vielleicht denkt er ja auch, ich würde jeden Kunden, den ich bediene, derartig belästigen und im besten Falle zeigt er mich auch noch an.

clairvoyant » n.hWo Geschichten leben. Entdecke jetzt